"Kainz sprach Blitze"#
Vor 100 Jahren starb Josef Kainz, der bedeutendste Schauspieler seiner Epoche, dessen Einfluss auch nach seinem Tod noch spürbar blieb.#
Von der Wiener Zeitung (Samstag, 18. September 2010) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Oliver Bentz
"Das ist wohl mit der größte Genuß, den ich je im Theater hatte. Abgesehen von Auffassung, seinem nicht auffallenden, aber ungemein bestechenden Exterieur, von den verschiedenen geistvollen Betonungen, seinem starken Temperament, ist es das Timbre seiner Stimme, bald sinnlich, bald kühn, trotzig, jugendlich kraftvoll, das einen unendlichen Reiz an sich hat. Vor allem aber ist das Tempo und die Deutlichkeit und Reinheit seiner Rede Wollust dem Ohre ... Dabei sprüht sein dunkles Auge und vibriert jeder Nerv und jeder Ton. Die kleinste Stimmungsnuance kommt mit Meisterschaft zur Geltung."
So begeistert äußerte sich Max Reinhardt über Josef Kainz. Kainz, der wohl bedeutendste deutschsprachige Schauspieler seiner Epoche, wurde vom Publikum am Deutschen Theater Berlin ebenso wie am Wiener Burgtheater oder während seiner zahlreichen Gastspielreisen durch Europa und Amerika umjubelt und verehrt wie Sarah Bernhardt oder Eleonora Duse. Vor hundert Jahren, am 20. September 1910, ist er gestorben.
Theaterleidenschaft#
Am 2. Jänner 1858 in Wieselburg (heute Mosonmagyaróvár) in der ungarischen Provinz als Sohn eines ehemaligen Schauspielers und Eisenbahnbeamten geboren, verließ Josef Kainz, inzwischen mit der Familie nach Wien übersiedelt, schon früh das Mariahilfer Realgymnasium, um seiner Theaterleidenschaft zu folgen. Im Burgtheater hatte er das Spiel der Hofschauspieler bewundert – mit sechzehn Jahren nahm er bei der Burgschauspielerin Cesarine Kupfer-Gomansky Schauspielunterricht. Aus seinem ersten Engagement am Hoftheater Kassel entließ man den jungen Mann aber schon bald wieder mit der Begründung, er sei "talentlos".
Doch Josef Kainz ließ sich nicht entmutigen. Nach Stationen in Marburg an der Drau und Leipzig begann 1877 sein Aufstieg am Hoftheater Meiningen, mit dem er Tourneen unternahm und an großen Häusern in Berlin, Frankfurt, Wien und Prag auf sich aufmerksam machte. Dem zu seiner Zeit auf der Bühne üblichen pathetischen Rollenspiel der sterilen Hoftheater-Tradition des 19. Jahrhunderts stellte Kainz differenzierte, sensible, realistisch interpretierte Charaktere gegenüber, als einer der Schöpfer des modernen Bühnenrealismus.
1880 wechselte Kainz ans Hof- und Nationaltheater München, wo er für einige Zeit die besondere Gunst König Ludwigs II. genoss. Er trat in dessen Privatvorstellungen auf und durfte als dessen Vorleser zusammen mit ihm auf Reisen gehen. In seinen Aufzeichnungen berichtet Kainz von den bizarren Erlebnissen auf den Wanderungen mit dem verrückten Herrscher, dem er jederzeit zur Deklamation verschiedener Schauspielszenen zu Verfügung stehen musste und der ihn dann, als er sich einmal weigerte, zu unmöglicher Zeit eine Rolle zum Besten zu geben, ebenso rasch wieder verstieß, wie er ihn erwählt hatte.
"Er war dazu geboren, Könige zu spielen, und Ludwig II. von Bayern hätte lieber von ihm lernen sollen, wie man sich als König benimmt... – statt ihn fallenzulassen", schrieb der Journalist und Homme de lettres Willy Haas in seinen Lebenserinnerungen ("Die Literarische Welt") zu dieser – von Luchino Visconti 1972 in dessen "Ludwig"-Film thematisierten – Episode im Leben des Schauspielers Kainz.
Mit seinem ersten Engagement am neugegründeten Deutschen Theater in Berlin (1883) avancierte Josef Kainz dann zum gefeierten "Bühnenstar". Er brillierte in der Eröffnungsvorstellung als Ferdinand in Schillers "Kabale und Liebe", in den Titelrollen von Shakespeares "Romeo und Julia", "Hamlet" und "Richard III.", als Franz Moor in Schillers "Räubern", als Leon in Grillparzers "Weh dem, der lügt" oder als Torquato Tasso in Goethes gleichnamigem Stück.
Begeistert zeigte sich die zeitgenössische Kritik von Kainz’ ausgefeilter, von großer Vitalität und Ausdruckskraft gekennzeichneter Sprechtechnik und seiner melodiösen Stimme: "Kainz sprach Blitze", beschrieb etwa Herbert Ihering das „elementare Wunder der Sprache“ des Schauspielers. Der Regisseur Jürgen Fehling bekundete: "Er sprach, als hätte er der Welt die Sprache gebracht wie Prometheus das Feuer. Die Sprache wird in seinem Munde ein heiliges Element". Wie kein anderer Schauspieler seiner Zeit beherrschte Kainz zudem die Kunst der Verwandlung in Vollendung. Figuren aus den klassischen Dramen holte er durch seine Bühnendarstellung des modernen, widersprüchlichen und sensiblen Menschen in seine Zeit. "Äußerlich schmal und knabenhaft wirkend, verlieh er seinen Rollen Grazie, Sensibilität und Poesie", heißt es in Bernd C. Suchers "Theaterlexikon".
Kaum zu unterschätzen war auch die Wirkung von Kainz’ Darstellungsstil auf spätere Schauspielergenerationen: "In den vier Plattenaufnahmen von Kainz aus dem Jahr 1902 klingt (sein) Sprechen wie ein Anruf aus Übersee mit einem sehr alten Telefon. 'Sterben.' Lange Pause. Rauschen. 'Schlafen!' Die Stimme schwillt an. Sie zittert wie im Zorn. 'Schlafen, vielleicht auch – träumen! Ja! Da liegt's!' Die Stimme erreicht, fast singend, eine viel höhere Lage, fällt schnell ab und verschwindet wieder im Rauschen. Josef Kainz als Hamlet. Der intellektuelle Zweifler, der trotz seiner Ungeduld nicht zur Tat schreiten kann. Alexander Moissi, Oskar Werner, Klaus Kinski: Alle wollten sie später als Hamlet so nervös, so modern sein wie er. Die meisten kannten von Kainz ... nicht mehr als diese Platte." (Matthias Nöther)
Kämpfe und Querelen#
Trotz seiner Erfolge am Deutschen Theater traf Josef Kainz 1889 den folgenschweren Entschluss, an Ludwig Barnays Berliner Theater, das Konkurrenzunternehmen zum Deutschen Theater, zu wechseln, wo er sich jedoch von Anfang aufgrund künstlerischer Differenzen mit der Theaterleitung und des ihn enttäuschenden Ensembles aufrieb. Kainz verließ das Haus im Streit. Wegen Vertragsbruchs wurde er 1890 zu einer Konventionalstrafe verurteilt und keinem Theater, das dem Deutschen Bühnenverein angehörte, war es erlaubt, ihn zu beschäftigen. So musste sich Kainz weitgehend mit Leseabenden und Gastspielen etwa in St. Petersburg und in New York durchschlagen, wo er 1891/92 am deutschsprachigen Irving Place Theatre engagiert wurde.
Erst als 1892 der Leiter des Deutschen Theaters, Adolph l’Arronge, aus dem Bühnenverein austrat, in der erklärten Absicht, Kainz ans Haus holen zu können, bekam dieser wieder ein Engagement in Deutschland. Zwei Jahre später aber übernahm Otto Brahm die Bühne und setzte statt der Klassiker lieber die immer stärker aufkommenden realistischen und naturalistischen Dramen auf den Spielplan. Auch in den Stücken Schnitzlers, Hauptmanns oder Sudermanns wurde Kainz gefeiert, aber sie boten dem Exzentriker, der noch dazu von Brahms Anweisungen vom Regiepult in seinem Elan gebremst wurde, nicht mehr den Raum und die Entfaltungsmöglichkeiten, die er in den großen klassischen Partien für sein Spiel vorfand.
Ende 1899 kam Josef Kainz, der während seiner Engagements in Berlin in 98 verschiedenen Rollen über 2000 Mal auf der Bühne gestanden war und große Erfolge gefeiert hatte, schließlich als Nachfolger von Friedrich Mitterwurzer ans Wiener Burgtheater, wo ihm der Titel eines "kaiserlich und königlichen Hofschauspielers" verliehen wurde. Im zweiten Jahr seines Engagements wurde sein ursprünglich zweijähriger Vertrag auf zwölf Jahre verlängert. Und hier am Burgtheater erreichten dann, so Wilhelm Kosch, "sein Tasso, Mephisto und Hamlet die letzte Vollendung".
Josef Kainz starb mit nur 52 Jahren an einem Krebsleiden. "Zum letzten Mal", schreibt Willy Haas über den todkranken Schauspieler, "sah ich ihn auf der Bühne von entsetzlichen Schmerzen gejagt, fast schon sterbend als 'Tasso'. Es war eine herzzerreißende Tragödie in der Tragödie. Atemlos schien er dem Ende des Dramas und seiner Leiden zuzustreben, fast unbekümmert um die Partner, um den Sinn seiner Verse, nur unterbrochen durch die wilden Schreie der Verzweiflung in seinen großen Monologen: er war damals wahrlich ein 'Tasso' am Rande des Wahnsinns; – Schauspielerei und Wirklichkeit schlugen gleichsam mit Fäusten aufeinander los, ohne dass eines oder das andere die Oberhand gewann." Auf seinem Sterbebett erreichte Kainz als besondere Auszeichnung die schriftliche Ernennung zum Burgtheaterregisseur. In einem Ehrengrab auf dem Döblinger Friedhof wurde er bestattet.
Das Lob der Nachwelt#
Auch auf die Schriftsteller und bildenden Künstler seiner Zeit übten auf die schauspielerische Singularität und das extrovertierte Wesen des Mimen starke Faszination aus. So lebt Josef Kainz auch nach seinem Tod in der Literatur und Kunst fort: Ernst Hardt, Hugo von Hofmannsthal und Viktor Klemperer verherrlichten Kainz in Gedichten, Jakob Wassermann porträtierte ihn im Roman "Christian Wahnschaffe" 1919 in der Figur des Edgar Lorm. Die Maler Wilhelm Trübner, Ludwig Keller und Ferdinand Schmutzer porträtierten ihn. Otto Treßler nahm ihm die Totenmaske ab, Alexander Jaray fertigte eine Marmorbüste für das Burgtheater sowie eine Bronzestatue, die Kainz in der Rolle des Hamlet zeigt. Sie steht heute noch in dem nach dem Schauspieler benannten Park in Währing (siehe Abbildung oben), wo 1931 übrigens auch ein Platz nach ihm benannt wurde.
Zu seinem 100. Geburtstag 1958 stiftete die Stadt Wien die Josef-Kainz-Medaille. Bis 1999 wurde die Auszeichnung jährlich an Schauspieler, Regisseure und Bühnenbildner vergeben. Zusammen mit dem Nestroy-Ring und dem Raimund-Ring ging die Josef-Kainz-Medaille im Jahr 2000 schließlich in den jährlich verliehenen Nestroy-Theaterpreis ein.
Kainz-Biographie#
Das Leben des Schauspielers und seine revolutionäre Rolle für das Theater seiner Zeit beschreibt Judith Eisermann in ihrem lesenswerten Buch "Josef Kainz – Zwischen Tradition und Moderne. Der Weg eines epochalen Schauspielers" (Herbert Utz Verlag, 428 Seiten, 59 Euro).
Die Autorin schildert Josef Kainz' Schauspielausbildung in Wien, seine weiteren Stationen, und vor allem seine großen Erfolge am Deutschen Theater in Berlin und am Wiener Burgtheater. Eisermann macht in ihrem gut lesbaren, detailreichen Buch, das als Dissertation an der Münchner Universität entstand, deutlich, warum Kainz' neuer Darstellungsstil viele Zeitgenossen so sehr faszinierte, zeigt den Schauspieler in vielen seiner Glanzrollen und definiert seine Bedeutung für die Theatergeschichte.
Oliver Bentz, geboren 1969, lebt und arbeitet als Germanist und Kulturpublizist in Speyer.