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Nachdenken über Ethik #

Philosophieren nicht als Entfaltung eines selbstgerechten Moralsystems, sondern als aktives Sicheinmischen, engagiertes Verhalten: ein Porträt des Philosophen Ernst Tugendhat zum 90. Geburtstag. #


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (5. März 2020)

Von

Nikolaus Halmer


Die Reflexion über ethische Grundsätze – nach dem Zusammenbruch der religiösen und ideologischen Begründungsinstanzen – steht im Mittelpunkt der philosophischen Arbeit von Ernst Tugendhat. Neben Jürgen Habermas gilt der streitbare Philosoph als einer der letzten Repräsentanten einer philosophischen Tradition, die im Aussterben begriffen ist.

Tugendhat hat ein weites Feld der Philosophie bearbeitet. Er bewegte sich vorerst im philosophischen Umkreis von Husserl und Heidegger, um sich danach – als einer der ersten deutschen Philosophen – der analytischen Philosophie zuzuwenden. Danach befasste sich Tugendhat fast ausschließlich mit ethischen Problemen. „Nachdenken über Ethik“ bedeutet jedoch nicht die Entfaltung eines hybriden, selbstgerechten Moralsystems, das von einer weltfremden, abstrakten Instanz ausgeht; vielmehr versteht Tugendhat darunter ein aktives Sicheinmischen, ein engagiertes Verhalten – angesichts brennender gesellschaftlicher Konflikte wie Asylrecht, Integration von Ausländern oder Menschenrechte.

Flucht vor dem Nationalsozialismus #

Schon früh entwickelte Ernst Tugendhat eine Sensibilität gegenüber Ungerechtigkeit, sozialen Missständen und politischer Willkür. Er wurde am 8. März 1930 als Sohn einer angesehenen jüdischen Familie in Brünn geboren. Die politische Willkür des nationalsozialistischen Regimes prägte seine Kindheit. Dank seiner höchst sensiblen Mutter ergriffen die Familienmitglieder die Flucht vor dem drohenden Terror und emigrierten 1938 zunächst in die Schweiz, 1941 nach Venezuela.

Seine Mutter war es auch, die den Jugendlichen ermunterte, Heideggers epochales Werk „Sein und Zeit“ zu lesen. Diese Lektüre hinterließ einen tiefen Eindruck; „da war kein Halten mehr“, sagte er in einem Interview. Den Entschluss, Philosoph zu werden, nannte er „schlagartig“. Er veranlasste Tugendhat – nach einem Zwischenspiel an der Stanford-University – nach Freiburg aufzubrechen, wo er Vorlesungen von Heideggerhörte. Nach seiner Dissertation über Aristoteles arbeitete er als Assistent in Tübingen, wo er seine Habilitationsschrift über den Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger verfasste.

Es war dies – bekannte Tugendhat später – ein äußerst schwieriges Unternehmen, das ihn einige Lebensjahre gekostet habe. Immer stärker irritierte ihn Heideggers Hang zum dunklen, mystifizierenden Geraune. „Ein natürliches Bedürfnis nach Klarheit“ bewog ihn dazu, sich mit der analytischen Philosophie zu befassen. Die Gelegenheit, diese streng logische, von der Sprachanalyse ausgehende Denkströmung kennenzulernen, hatte sich während eines Gastaufenthaltes an der University of Michigan in Ann Arbor ergeben.

Tugendhat sah in den Methoden der analytischen Philosophie ein „Insistieren auf Klarheit“, das er nicht mehr preisgeben wollte. Er sprach von einem „Bruch mit der traditionellen Philosophie“. Deutlicher als zuvor in Deutschland wurde ihm bewusst, „dass die Philosophie rational sein soll“. 1966 erhielt Tugendhat eine Professur an der Universität Heidelberg, wo er – neben Hans-Georg Gadamer und Dieter Henrich – bis 1975 lehrte. 1980 nahm er eine Einladung von Jürgen Habermas, mit dem er befreundet war, an das Starnberger Max- Planck-Institut an. Danach folgte er einem Ruf an die Freie Universität in Westberlin, wo er bis 1992 lehrte. Großes Aufsehen erregte sein Entschluss, Deutschland zu verlassen. Es war dies der Ausdruck eines bestimmten Unbehagens, das sowohl persönliche als auch politische Gründe hatte.

Seit den 1980er Jahren befasst sich Tugendhat fast ausschließlich mit Problemen der Ethik. Sie stellt für ihn keineswegs einen Katalog von Normen dar, der jegliches, menschliches Verhalten reguliert, sondern „ein Gewebe von Gründen und Motiven, das einer ständigen Revision bedarf“. In immer neuen Anläufen versucht er die Ausarbeitung einer ethischen Begründung, die sich nicht auf religiöse oder metaphysische Argumentationen stützt. „Mit jedem weiteren Versuch knüpfte ich dort an“, bekennt Tugendhat, „wo der Vorige in eine Sackgasse geraten war.“

Inhaltlich steht Tugendhat Kant nahe; aber dessen Idee einer absoluten Begründung der Moral erweist sich als unhaltbar. Jede Ethik, die einen universell gültigen Moralkodex verkündet und einen Anspruch auf absolute Gültigkeit erhebt, ist für Tugendhat unglaubwürdig. Tugendhat plädiert für eine bescheidene Haltung der Philosophie – angesichts ihrer Hilflosigkeit gegenüber den moralischen Schwierigkeiten von heute. Es ist dies eine Ethik der universalen Achtung, die niemanden instrumentalisieren will. Das heißt, sich darüber im Klaren zu sein, dass die Vorschläge, ethische Wertmaßstäbe zu entwickeln, nur Rahmenbedingungen für ein wahrhaft humanes Verhalten schaffen, das heute bestenfalls im Schattenreich des „Noch-nicht“ verharrt.

Einen anderen Zugang für solch ein humanes Verhalten eröffnet Tugendhat in seinem 2003 publizierten Buch „Egozentrizität und Mystik“. Dort stellt er die Ichbezogenheit des Menschen, der sich als Zentrum der Welt betrachtet, der Gelassenheit der Mystiker gegenüber. Der nur auf sich bezogene Mensch führt ein defizientes Leben, weil er sich in einem Hamsterrad von Begierden, Wünschen und Aktivitäten bewegt, um sein Ego zu befriedigen, und auf andere kaum Rücksicht nimmt, worauf schon Arthur Schopenhauer hingewiesen hat.

„Die menschliche Geschichte ist ein Kampf um die Bejahung des eigenen auf Kosten fremden Lebens“, notierte er. Um einen inneren Frieden zu erlangen, muss der Mensch sich von seinem Egoismus befreien und lernen, eine gelassene Haltung einzunehmen, wie sie bei christlichen, buddhistischen oder taoistischen Mystikern zu finden ist. Tugendhats Mystik hat jedoch nicht das Ziel einer Vereinigung mit dem Göttlichen; sie soll vielmehr zu der Einsicht führen, die Schopenhauer mit der Formel „Tat tvam asi“ – „Das bist du“ bezeichnet hatte. Indem durch die Selbstdistanz der weit verbreitete Hang, den Egoismus auszuleben, angehalten wird, öffnet sich das Individuum für die Solidarität mit der gesamten Menschheit.

Egozentrische Haltung relativieren #

Eine wichtige Rolle in Tugendhats Reflexionen spielt seine letzte Publikation „Über den Tod“. Diesen Essay bezeichnete er als eine der wenigen Arbeiten, die „so geschrieben“ sind, „wie ich eigentlich gerne schreibenwürde“. Damitmeinter– selbstkritisch –, dass er für zu lange Zeit dem Hang der akademischen Philosophie zur Abstraktion nachgegeben habe. Der Gedanken an den Tod ist für ihn das finale „Zurückgenommenwerden“ des Egoismus, das, wie die Selbstdistanz der mystischen Haltung, dazu verhelfe, die egozentrische Haltung zu relativieren. Das bedeutet – in der Nachfolge Schopenhauers – keineswegs eine pessimistische Weltsicht. Vielmehr postulierte Tugendhat: „Wer zu seinem gelebten Leben Ja sagt, tut sich leichter beim Übergang ins Nichts.“

WERKE VON ERNST TUGENDHAT #

  • Vorlesungen über Ethik Suhrkamp 1993 399 S., geb., € 30,70
  • Ethik und Politik Suhrkamp 1992 139 S., kart., € 14,40
  • Egozentrizität und Mystik C. H. Beck 2006 169 S., kart., € 12,30

DIE FURCHE (5. März 2020)