Der letzte Lamarckianer #
Paul Kammerer (1880 – 1926) war eine Art Popstar der Biologie, bis er einer Fälschung beschuldigt wurde und Selbstmord beging. Arthur Koestlers neu aufgelegtes Buch "Der Krötenküsser" erinnert an diesen Fall.#
Von der Wiener Zeitung (Samstag, 25. September 2010) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Peter Jungwith
Am frühen Nachmittag des 23. September 1926 fand man im Schneeberggebiet die Leiche eines gut gekleideten Mannes. Der Tote lehnte mit dem Rücken gegen den Berghang, die Pistole, mit der er sich in den Kopf geschossen hatte, lag noch in seiner Hand, im Anzug steckte ein Brief, gerichtet an "denjenigen, der meine Leiche findet":
"Dr. Paul Kammerer ersucht, ihn nicht nach Hause zu überbringen, weil seiner Familie der Anblick erspart bleiben soll. Am einfachsten und wohlfeilsten wäre eine Verwertung im Seziersaal eines der akademischen Universitätsinstitute. Mir auch am sympathischsten, weil ich der Wissenschaft wenigstens auf solche Weise einen kleinen Dienst erweise. Vielleicht finden die Kollegen in meinem Gehirn eine Spur dessen, was sie an meinen lebendigen Äußerungen vermissten."
Fast ein halbes Jahrhundert später zitierte Arthur Koestler diesen Brief am Beginn seiner Biographie "Der Krötenküsser – Der Fall des Biologen Paul Kammerer". Und setzte lapidar hinzu: "Damit endete der größte wissenschaftliche Skandal der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts." Wer war dieser Paul Kammerer? Und was war geschehen?
Paul Kammerer (1880 – 1926) war ein Wiener Biologe, dessen Forschungsergebnisse in den 1920er Jahren als größte biologische Entdeckung des Jahrhunderts gefeiert wurden. Es schien ihm gelungen zu sein, eine entscheidende Frage der Evolutionstheorie zu beantworten: Wird die Veränderung der Arten durch Vererbung erworbener Eigenschaften bewirkt, wie Jean-Baptiste de Lamarck im Jahr 1809 behauptet hatte? Oder, wie Charles Darwin ein halbes Jahrhundert danach schrieb, durch Zufallsmutationen und Auslese?
Versuche mit Amphibien#
Kammerer war ein überzeugter Anhänger von Lamarck. Er experimentierte mit Amphibien – unter anderem mit Geburtshelferkröten, Grottenolmen und Salamandern –, die er in Umgebungen versetzte, die den Tieren fremd waren. Nach jahrzehntelangen Züchtungen, die er bereits als Gymnasiast begann und bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs in der Wiener Biologischen Versuchsanstalt fortführte – dem sogenannten Vivarium im Prater –, fand er schließlich farblich und funktional veränderte Tiere vor, was er als Bestätigung der Thesen Lamarcks interpretierte.
Der eifrig publizierende Kammerer erregte in der Fachwelt bald Aufsehen und fand überzeugte Anhänger – vor allem in der jungen Sowjetunion, deren Ideologie mit der Theorie von Lamarck perfekt korrespondierte. Allerdings gab es sehr früh auch Zweifler; William Bateson, der den Ausdruck "Genetik" prägte und zu dieser Zeit als die zoologische Kapazität in Europa galt, war einer davon. Vor allem die Brunftschwielen an Kammerers Geburtshelferkröten waren Bateson suspekt.
Kammerer hatte Geburtshelferkröten, die sich normalerweise nur an Land paaren, durch zu hohe Temperaturen im Terrarium gezwungen, den Geschlechtsverkehr im Wasser durchzuführen. Nach einiger Zeit entwickelten die männlichen Kröten Schwielen an den Vorderbeinen, die beim Begattungsakt im Wasser das Umklammern des Weibchens erleichtern, indem sie ein Abrutschen verhindern. Die Vererbung dieser erworbenen "Brunftschwielen" wäre, wenn auch kein letztgültiger Beweis, so doch ein wichtiges Indiz für die Richtigkeit der Thesen Lamarcks gewesen.
Ein zweiter Darwin#
Zunächst sind die Kriegsfolgen für Kammerer aber verheerender als die Skepsis Batesons: Mangels Pflege verenden seine Versuchstiere und viele seiner wertvollen Präparate werden zerstört. Seine Karriere als experimentierender Biologe ist zu Ende.
Dennoch und trotz widrigster Umstände im Österreich der Nachkriegszeit – die Hyperinflation beraubt ihn seines Vermögens, sein Gehalt am Vivarium reicht kaum zum Überleben, seine Bewerbung um eine ordentliche Professor an der Universität Wien scheitert –, gelingt es dem manisch produktiven Kammerer, mit populärwissenschaftlichen Büchern und bestens besuchten Vorträgen Kapital aus seinen umstrittenen biologischen Experimenten der Vorkriegszeit zu schlagen.
Weltruhm erreicht Kammerer schließlich 1923 bei einer mehrmonatigen Vortragsreise durch die USA: Er hat neben seiner Geburtshelferkröte einen blinden Grottenolm im Gepäck, dem durch Bestrahlung mit rotem Licht ein Auge gewachsen war. Für die Boulevardpresse eine Sensation. Am 5. Mai 1923 titelt "New York World": "Wiener Biologe als Mann des Jahrhunderts gefeiert". Sogar die seriöse "New York Times" nennt Kammerer einen "zweiten Darwin" – wenn auch nur in einer Bildunterschrift.
Statt Professor, was ihm in Wien versagt blieb, wurde Kammerer eine Art Popstar der Biologie. Damit hatte der "Krötenküsser" - wie der impulsive, flamboyante und extrem exzentrische Kammerer genannt wurde, weil er einmal im Garten eines böhmischen Schlosses eine seltene Kröte entdeckt und zum Entsetzen der Schlossherrin zu sich hochgehoben und geküsst hatte – die Fallhöhe des Helden einer griechischen Tragödie erreicht.
Anfang August 1926, sechs Wochen vor seinem Selbstmord, platzte die Bombe: In "Nature" erschien der Bericht des amerikanischen Forschers G. K. Noble, der nach Wien gekommen war, um das letzte erhaltene Exemplar der Geburtshelferkröte zu untersuchen – und dabei statt Brunftschwielen nur schwarze Flecken gefunden hatte, durch simple Injektionen mit schwarzer Tinte hergestellt. Das berühmte Präparat war an der entscheidenden Stelle ganz offenbar manipuliert worden.
Natürlich ließ sich allein aus diesem Befund nicht zweifelsfrei auf ein Fehlverhalten Paul Kammerers schließen. Wie viele andere war auch der Leiter des Vivariums, Hans Leo Przibram, von der Unschuld seines langjährigen Mitarbeiters überzeugt. Er wies darauf hin, dass im Prinzip jeder – auch ein Rivale Kammerers – dem Präparat die Tusche-Injektion hätte geben können.
Allerdings versäumte es Kammerer bis zu seinem Freitod, sich zu dem Fall und zu den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zu äußern. Sein Selbstmord konnte daher auch als Schuldeingeständnis gewertet werden. Und kurz nach Kammerer verschwand dann auch der Lamarckismus von der wissenschaftlichen Bühne – mit Ausnahme der Sowjetunion, wo er sich bis in die 50er Jahre hielt.
Völlig vergessen wurde Kammerer allerdings nicht, und es waren keine Kleingeister, die sich auf ihn beriefen: 1950 erinnerte der Psychoanalytiker C. G. Jung, als er sich mit den Phänomen des sinnvollen Zufalls beschäftigte, an Kammerers einschlägigen Klassiker "Das Gesetz der Serie" – ein Buch, das 1919 auch Albert Einstein gelesen und "originell und keineswegs absurd" gefunden hatte. 1954 legte Thomas Mann, der schon 1924 im "Zauberberg" aus Kammerers Werken zitiert hatte, im letzten Teil von "Felix Krull" einer Romanfigur (Professor Kuckuck) ganze Passagen von Kammerers Werk in den Mund.
Im Rampenlicht stand Kammerer aber erst wieder 1971, als Arthur Koestlers Kammerer-Biographie – im Original "The Case of the Midwife Toad" – in Großbritannien erschien. Das Buch wurde von Literaturkritikern enthusiastisch besprochen, die BBC drehte eine Fernsehdokumentation über Kammerers Leben und Werk.
Koestlers Biographie, die einzige Studie in Buchform, die es bis heute über Kammerer gibt, geschrieben mit der Leidenschaft eines Autors, der seinen Protagonisten rehabilitieren will, ist ein detektivisches und dramaturgisches Meisterwerk. Akribisch arbeitet Koestler Unmengen von Quellen auf und entwickelt nicht nur das packende Bild eines faszinierenden und vielseitigen Forschers, der mehr und mehr zu einer politisch relevanten Figur wird, sondern auch ein differenziertes und lebendiges Panorama der politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Milieus, die auf Kammerer einwirken – und die umgekehrt ihrerseits vom Wirken Kammerers beeinflusst werden.
Vita mit blinden Flecken#
In der biologischen Fachwelt fand das Buch Koestlers, naturgemäß, weniger Zustimmung. Lester R. Aronson – der ehemalige Assistent jenes G. K. Noble, der 1926 Kammerers Kröte untersucht hatte – befand, Koestler habe selektiv zitiert und sämtliche Zweifel an Kammerers Arbeiten bewusst totgeschwiegen. Stephen Jay Gould hingegen folgte kriminologisch ganz der Argumentation Koestlers und meinte, dass Kammerer mit ziemlicher Sicherheit kein Fälscher war. Er erneuerte allerdings Einwände, die schon zu Kammerers Lebzeiten erhoben worden waren: Die Brunftschwielen seien "die Fixierung eines Atavismus", ein Rückfall in eine vergangene Evolutionsstufe und keine neuen Eigenschaften oder Merkmale.
Wer immer auch am Ende in all den Fragen rund um Kammerer Recht haben mag: Dass sich, fast ein halbes Jahrhundert nach dessen tragischem Freitod, ein streitbarer Schriftsteller vom Kaliber Koestlers dieses Falles angenommen hat, war mit Sicherheit ein Glücksfall für die kritische Wissenschafts-Geschichtsschreibung.
Sehr erfreulich ist es daher, dass der Czernin-Verlag Koestlers "Krötenküsser" nun neu aufgelegt und den zeitlosen Text damit wieder zugänglich gemacht hat.
In einem informativen Nachwort beleuchten Peter Berz und Klaus Taschwer die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Buches und fassen die Kammerer-Forschung der letzten vier Jahrzehnte zusammen. Der Eindruck, dass Koestler gründlich gearbeitet hat, wird dabei weitgehend bestätigt. Der langen Liste der von Kammerer umworbenen Frauen war zum Beispiel nur eine Studentin hinzuzufügen. Die Namen jener sieben prominenten Wienerinnen – darunter auch Alma Mahler –, die der Krötenküsser ebenfalls umschwärmt hatte, zählte Koestler bereits 1971 auf. Allerdings entging ihm offenbar die jüdische Abstammung Kammerers mütterlicherseits. Und aus heutiger Perspektive betrachtet, so Berz und Taschwer, sei klar, dass Kammerers Karriere von antisemitischen akademischen "Kollegen" erfolgreich sabotiert wurde.
Es gibt mit Sicherheit noch weitere blinde Flecken in der Vita wie im wissenschaftlichen Wirken des letzten Lamarckianers. Und einige davon verbergen wohl Informationen von allgemeinem Interesse.
Die Kammerer-Forschung hat sich im letzten Jahrzehnt jedenfalls merklich intensiviert, und im Darwinjahr 2009 stand der von vielen Vergessene sogar wieder im Rampenlicht. Anlass war eine Entdeckung des Entwicklungsbiologen Alexander Vargas, die zur Frage führte, ob Kammerer Erkenntnisse der modernen Epigenetik vorweggenommen habe.
Vielleicht ist der Krötenküsser, dem Arthur Koestler mit seiner Biographie ein würdiges Denkmal gesetzt hat, sogar noch für weitere große Überraschungen gut.
- Arthur Koestler: Der Krötenküsser – Der Fall des Biologen Paul Kammerer. Aus dem Englischen von Krista Schmidt. Mit einem Nachwort von Peter Berz und Klaus Taschwer. Czernin Verlag, Wien 2010, 359 Seiten, 19,00 Euro.
Peter Jungwirth, geboren 1962, lebt in Wien und ist als freier Journalist im Print- und Hörfunkbereich tätig.