Page - 26 - in Amerika
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Der Onkel
Im Hause des Onkels gewöhnte sich Karl bald an die neuen Verhältnisse. Der
Onkel kam ihm aber auch in jeder Kleinigkeit freundlich entgegen, und
niemals mußte Karl sich erst durch schlechte Erfahrungen belehren lassen,
wie dies meist das erste Leben im Ausland so verbittert.
Karls Zimmer lag im sechsten Stockwerk eines Hauses, dessen fünf untere
Stockwerke, an welche sich in der Tiefe noch drei unterirdische anschlossen,
von dem Geschäftsbetrieb des Onkels eingenommen wurden. Das Licht, das
in sein Zimmer durch zwei Fenster und eine Balkontüre eindrang, brachte
Karl immer wieder zum Staunen, wenn er des Morgens aus seiner kleinen
Schlafkammer hier eintrat. Wo hätte er wohl wohnen müssen, wenn er als
armer kleiner Einwanderer ans Land gestiegen wäre? Ja, vielleicht hätte man
ihn, was der Onkel nach seiner Kenntnis der Einwanderungsgesetze sogar für
sehr wahrscheinlich hielt, gar nicht in die Vereinigten Staaten eingelassen,
sondern ihn nach Hause geschickt, ohne sich weiter darum zu kümmern, daß
er keine Heimat mehr hatte. Denn auf Mitleid durfte man hier nicht hoffen,
und es war ganz richtig, was Karl in dieser Hinsicht über Amerika gelesen
hatte; nur die Glücklichen schienen hier ihr Glück zwischen den
unbekümmerten Gesichtern ihrer Umgebung wahrhaft zu genießen.
Ein schmaler Balkon zog sich vor dem Zimmer seiner ganzen Länge nach
hin. Was aber in der Heimatstadt Karls wohl der höchste Aussichtspunkt
gewesen wäre, gestattete hier nicht viel mehr als den Überblick über eine
Straße, die zwischen zwei Reihen förmlich abgehackter Häuser gerade, und
darum wie fliehend, in die Ferne sich verlief, wo aus vielem Dunst die
Formen einer Kathedrale ungeheuer sich erhoben. Und morgens wie abends
und in den Träumen der Nacht vollzog sich auf dieser Straße ein immer
drängender Verkehr, der, von oben gesehen, sich als eine aus immer neuen
Anfängen ineinandergestreute Mischung von verzerrten menschlichen
Figuren und von Dächern der Fuhrwerke aller Art darstellte, von der aus sich
noch eine neue, vervielfältigte, wildere Mischung von Lärm, Staub und
Gerüchen erhob, und alles dieses wurde erfaßt und durchdrungen von einem
mächtigen Licht, das immer wieder von der Menge der Gegenstände
verstreut, fortgetragen und wieder eifrig herbeigebracht wurde und das dem
betörten Auge so körperlich erschien, als werde über dieser Straße eine alles
bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick immer wieder mit aller Kraft
zerschlagen.
Vorsichtig wie der Onkel in allem war, riet er Karl, sich vorläufig ernsthaft
nicht auf das geringste einzulassen. Er sollte wohl alles prüfen und anschauen,
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Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik