Page - 182 - in Amerika
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Das Naturtheater von Oklahoma
Karl sah an einer Straßenecke ein Plakat mit folgender Aufschrift: »Auf dem
Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal
für das Theater in Oklahoma aufgenommen! Das große Theater von
Oklahoma ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit
versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns!
Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das
Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns
entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch,
damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf Uhr wird alles
geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt! Auf
nach Clayton!«
Es standen zwar viele Leute vor dem Plakat, aber es schien nicht viel
Beifall zu finden. Es gab so viele Plakate, Plakaten glaubte niemand mehr.
Und dieses Plakat war noch unwahrscheinlicher, als Plakate sonst zu sein
pflegen. Vor allem aber hatte es einen großen Fehler, es stand kein Wörtchen
von der Bezahlung darin. Wäre sie auch nur ein wenig erwähnenswert
gewesen, das Plakat hätte sie gewiß genannt; es hätte das Verlockendste nicht
vergessen. Künstler werden wollte niemand, wohl aber wollte jeder für seine
Arbeit bezahlt werden.
Für Karl stand aber doch in dem Plakat eine große Verlockung. »Jeder war
willkommen«, hieß es. Jeder, also auch Karl. Alles, was er bisher getan hatte,
war vergessen, niemand wollte ihm daraus einen Vorwurf machen. Er durfte
sich zu einer Arbeit melden, die keine Schande war, zu der man vielmehr
öffentlich einladen konnte! Und ebenso öffentlich wurde das Versprechen
gegeben, daß man auch ihn annehmen würde. Er verlangte nichts Besseres, er
wollte endlich den Anfang einer anständigen Laufbahn finden, und hier zeigte
er sich vielleicht. Mochte alles Großsprecherische, das auf dem Plakate stand,
eine Lüge sein, mochte das große Theater von Oklahoma ein kleiner
Wanderzirkus sein, es wollte Leute aufnehmen, das war genügend. Karl las
das Plakat nicht zum zweiten Male, suchte aber noch einmal den Satz: »Jeder
ist willkommen« hervor. Zuerst dachte er daran, zu Fuß nach Clayton zu
gehen, aber das wären drei Stunden angestrengten Marsches gewesen, und er
wäre dann möglicherweise gerade zurecht gekommen, um zu erfahren, daß
man schon alle verfügbaren Stellen besetzt hätte. Nach dem Plakat war
allerdings die Zahl der Aufzunehmenden unbegrenzt, aber so waren immer
alle derartigen Stellenangebote abgefaßt. Karl sah ein, daß er entweder auf die
Stelle verzichten oder fahren mußte. Er überrechnete sein Geld, es hätte ohne
diese Fahrt für acht Tage gereicht, er schob die kleinen Münzen auf der
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Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik