Page - 89 - in Amerika
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Hotel Occidental
Im Hotel wurde Karl gleich in eine Art Büro geführt, in welchem die
Oberköchin, ein Vormerkbuch in der Hand, einer jungen Schreibmaschinistin
einen Brief in die Schreibmaschine diktierte. Das äußerst präzise Diktieren,
der beherrschte und elastische Tastenschlag jagten an dem nur hie und da
merklichen Ticken der Wanduhr vorüber, die schon fast halb zwölf zeigte.
»So!« sagte die Oberköchin, klappte das Vormerkbuch zu, die
Schreibmaschinistin sprang auf und stülpte den Holzdeckel über die
Maschine, ohne bei dieser mechanischen Arbeit die Augen von Karl zu
lassen. Sie sah noch wie ein Schulmädchen aus, ihre Schürze war sehr
sorgfältig gebügelt, auf den Achseln zum Beispiel gewellt, die Frisur recht
hoch, und man staunte ein wenig, wenn man nach diesen Einzelheiten ihr
ernstes Gesicht sah. Nach Verbeugungen, zuerst gegen die Oberköchin, dann
gegen Karl, entfernte sie sich, und Karl sah unwillkürlich die Oberköchin mit
einem fragenden Blicke an.
»Das ist aber schön, daß Sie nun doch gekommen sind«, sagte die
Oberköchin. »Und Ihre Kameraden?«
»Ich habe sie nicht mitgenommen«, sagte Karl.
»Die marschieren wohl sehr früh aus«, sagte die Oberköchin, wie um sich
die Sache zu erklären.
›Muß sie denn nicht denken, daß ich auch mitmarschiere?‹ fragte sich Karl
und sagte deshalb, um jeden Zweifel auszuschließen: »Wir sind in Unfrieden
auseinandergegangen.«
Die Oberköchin schien das als eine angenehme Nachricht aufzufassen.
»Dann sind Sie also frei?« fragte sie.
»Ja, frei bin ich«, sagte Karl, und nichts schien ihm wertloser.
»Hören Sie, möchten Sie nicht hier im Hotel eine Stelle annehmen?« fragte
die Oberköchin.
»Sehr gern«, sagte Karl, »ich habe aber entsetzlich wenig Kenntnisse. Ich
kann zum Beispiel nicht einmal auf der Schreibmaschine schreiben.«
»Das ist nicht das Wichtigste«, sagte die Oberköchin. »Sie bekämen eben
vorläufig nur eine ganz kleine Anstellung und müßten dann zusehen, durch
Fleiß und Aufmerksamkeit sich hinaufzubringen. Jedenfalls aber glaube ich,
daß es für Sie besser und passender wäre, sich irgendwo festzusetzen, statt so
durch die Welt zu bummeln. Dazu scheinen Sie mir nicht gemacht.«
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Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik