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II. Ausreise Bruneldas
Eines Morgens schob Karl den Krankenwagen, in dem Brunelda saß, aus dem
Haustor. Es war nicht mehr so früh, wie er gehofft hatte. Sie waren
übereingekommen, die Auswanderung noch in der Nacht zu bewerkstelligen,
um in den Gassen kein Aufsehen zu erregen, das bei Tag unvermeidlich
gewesen wäre, so bescheiden auch Brunelda mit einem großen grauen Tuch
sich bedecken wollte. Aber der Transport über die Treppe hatte zu lange
gedauert, trotz der bereitwilligsten Mithilfe des Studenten, der viel schwächer
als Karl war, wie sich bei dieser Gelegenheit herausstellte. Brunelda hielt sich
sehr tapfer, seufzte kaum und suchte ihren Trägern die Arbeit auf alle Weise
zu erleichtern. Aber es ging doch nicht anders, als daß man sie auf jeder
fünften Treppenstufe niedersetzte, um sich selbst und ihr die Zeit zum
notwendigen Ausruhen zu gönnen. Es war ein kühler Morgen, auf den
Gängen wehte kalte Luft wie in den Kellern, aber Karl und der Student waren
ganz in Schweiß und mußten während der Ruhepausen jeder ein Zipfel von
Bruneldas Tuch, das sie ihnen übrigens freundlich reichte, nehmen, um das
Gesicht zu trocknen. So kam es, daß sie erst nach zwei Stunden unten
anlangten, wo schon vom Abend her das Wägelchen stand. Das Hineinheben
Bruneldas gab noch eine gewisse Arbeit, dann aber durfte man das Ganze für
gelungen ansehen, denn das Schieben des Wagens mußte dank den hohen
Rädern nicht schwer sein, und es blieb nur die Befürchtung, daß der Wagen
unter Brunelda aus den Fugen gehen würde. Diese Gefahr mußte man
allerdings auf sich nehmen, man konnte nicht einen Ersatzwagen mitführen,
zu dessen Bereitstellung und Führung der Student halb im Scherz sich
angeboten hatte. Es erfolgte nun die Verabschiedung vom Studenten, die
sogar sehr herzlich war. Alle Nichtübereinstimmung zwischen Brunelda und
dem Studenten schien vergessen, er entschuldigte sich sogar wegen der alten
Beleidigung Bruneldas, die er sich bei ihrer Krankheit hatte zuschulden
kommen lassen, aber Brunelda sagte, alles sei längst vergessen und mehr als
gutgemacht. Schließlich bat sie den Studenten, er möge zum Andenken an sie
einen Dollar freundlichst annehmen, den sie mühselig aus ihren vielen
Röcken hervorsuchte. Dieses Geschenk war bei Bruneldas bekanntem Geiz
sehr bedeutungsvoll, der Student hatte auch wirklich große Freude davon und
warf die Münze hoch in die Luft. Dann allerdings mußte er sie auf dem Boden
suchen, und Karl mußte ihm helfen, schließlich fand Karl sie auch unter dem
Wagen Bruneldas. Der Abschied zwischen dem Studenten und Karl war
natürlich viel einfacher, sie reichten einander nur die Hand und sprachen die
Überzeugung aus, daß sie einander wohl noch einmal sehen würden und daß
dann wenigstens einer von ihnen – der Student behauptete es von Karl, Karl
vom Studenten – etwas Rühmenswertes erreicht haben würde, was bisher
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book Amerika"
Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik