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  Autobiografisches 
Schreiben |  29
graphisches Leben«, wie es der US-amerikanische Kulturhistoriker Carl Pletsch
fĂĽr intellektuelle Eliten im 20. Jahrhundert postulierte.46
Trotzdem merkte er bald, dass er die vorgesehene Einheit seines Selbsts nicht
so recht den Konventionen entsprechend herstellen konnte. Er hatte Schwierig-
keiten mit nicht erreichbarer Authentizität des Erinnerns, mit biografischer
Sinnstiftung und mit polierter Selbstpräsentation. Autobiografien wurden ihm
als »Särge, in denen geschminkte Tote zu Schau stehen«, suspekt.47 Sein Leben
war keine sich geradlinig entwickelnde Helden- oder Erfolgsgeschichte, die sich
einfach in den autobiografischen Modus einpassen lieĂź :
Wer viele Leben lebt, kann nicht alle grĂĽndlich leben. Er stĂĽckelt BruchstĂĽcke zusam-
men. Er bewegt sich über disparate Augenblicke hin. […] Der ewige Anfänger und
Aufhörer, der unvermeidliche Stümper. […] Mein ganzes Leben ist solch eine vergeb-
liche Webarbeit. 48
Obwohl autobiografische Unkonventionalität bereits im Trend lag und in Lon-
don, Berlin und Paris etwa Virginia Woolf, Siegfried Kracauer und Gertrude
Stein Selbstverständlichkeit und Konsistenz der Autobiografie in Frage stellten
und Leben auĂźerhalb der institutionalisierten, bĂĽrgerlichen Norm schrieben,49
fand Viertel keine Form, um seine »ewig schreitende Häutung der Illusionen«50
darzustellen. Die Suchbewegung wurde ĂĽber weite Strecken selbst zum Thema
des autobiografischen Schreibens. Doch warum ist das so und an welchen Tra-
ditionen hielt Viertel noch fest ?
Viertel fehlten – und das wurde ihm zum Problem – zwei wesentliche Vor-
aussetzungen, um sich »Biographiewürdigkeit« zuzuschreiben :51 Zum einen gab
es keine symbolische Ordnung wie die Arbeiterbewegung, die Frauenbewegung
oder eine der diversen Nationalbewegungen, mit der er sich identifizierte und an
46 Pletsch, Carl, On the Autobiographical Life of Nietzsche, in : Moraitis, George und Pollock, George
H. (Hg.), Psychoanalytic Studies of Biography, New York 1987, 405–435 ; Prager, Katharina und
Hannesschläger, Vanessa, Gendered Lives in Anticipation of a Biographer ?, in : Bosch, Mineke u.a.
(Hg.), Tijdschrift voor Genderstudies 2016-3, Special Issue »Life Writing«, Vol. 18, No. 3, Amster-
dam 2016, 337–354
47 BV, Gespaltenes Ich bzw. Wiederkehr des kleinen Lebens, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Che-
rub, 1990, 13 bzw. 42.
48 BV, Gespaltenes Ich, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 13.
49 Lee, Hermione, Virginia Woolf, New York 1997, 16–18 ; Kracauer, Siegfried, Die Biographie als
neubürgerliche Kunstform [1930], in : Fetz/Hemecker (Hg.), Theorie der Biographie, 2011, 119–
123.
50 BV, [Mutabor], in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 220 ; Bourdieu, Pierre, Die bio-
graphische Illusion, in : Fetz/Hemecker (Hg.), Theorie der Biographie, 2011, 303–310.
51 Schweiger, Hannes, Biographiewürdigkeit, in : Klein (Hg.), Handbuch, 2009, 32–36.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359