Page - 30 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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die er anschlieĂźen konnte. Die Autobiografie ist der Ort der Identifikation mit
Nation, Geschlecht oder IdeologieÂ
– sie ist »die soziale Praxis, die im Prozeß der
Modernisierung die Verbindung zwischen dem Kollektiv und dem Individuum
herstellt.«52 Berthold Viertels kulturelle Mehrfachzugehörigkeit und Parteilo-
sigkeit ermöglichten ihm zwar eine gewisse kritische Außenperspektive auf
solche Identitätskonzeptionen, sie entzogen ihm aber auch jede Form von
Zuord nungsmöglichkeit, wie sie gerade im autobiografischen Kontext verlangt
wird. Er selbst schrieb :
Schau mal, ich bin Ă–sterreicher, dazu Jude ; als Schriftsteller und Theatermensch
Angehöriger der deutschen Kultur […], dann wanderte ich nach Amerika aus […].
Als Hitler Ă–sterreich seinem Zwangsstaat einverleibte, befand ich mich in London
und tauschte meinen österreichischen Pass gegen ein weißes Papier um, das mich
staatenlos und zum WeltbĂĽrger machte.53
Zum zweiten konnte Viertel keine außerordentliche Leistung oder Wirkmäch-
tigkeit vorweisen und dieser Umstand, dass er nicht – wie es die männliche
Normalbiografie verlangt – Werk(e) geschrieben und Karriere gemacht hatte,
beeinträchtigte sein autobiografisches Schreiben wahrscheinlich noch vehemen-
ter. Sehr früh – bereits Ende der 1920er in Deutschland – schrieb er seine Auto-
biografie als die eines Gescheiterten.54 Dieses Scheitern brachte er dezidiert
nicht mit seinem Exil in Verbindung, obwohl das später oft so interpretiert
wurde :
Wir gingen ins Exil wie entthronte Könige. […] Ich verließ kein Königreich. Meine
Arbeit hatte bereits im Treibsand zerbröckelnder Verhältnisse begonnen. Sie blieb
provisorisch, und auf Abruf getan. Kein größeres Werk gelang mir. Keine geschlossene
Abfolge meines Wirkens, auch nicht einmal der bleibende Ansatz einer Tradition […].
Nirgendwo war ich daheim, mich einzureihen vermochte ich nicht, obwohl ich […]
eine Stimme im Rate der vorwärts Gerichteten innehatte. […] Lehrer ohne Schule,
habe ich manche auf den Weg gebracht, den ich selbst nur gegen überwältigende
Hindernisse strauchelnd und in die Irre gehen sollte.55
52 Gehmacher, Johanna, De/PlatzierungenÂ
– zwei Nationalistinnen in der Hauptstadt des 19. Jahrhun-
derts. Überlegungen zu Nationalität, Geschlecht und Auto/biographie, in : WerkstattGeschichte 32,
2002, 6–30, 12.
53 BV, o. T. [1944], o.S., K24, A : Viertel, DLA.
54 BV, Ein Pfuscher/Der ĂśberflĂĽssige/Ich liebe dich, Ariadne. Aus den Papieren eines ĂĽberflĂĽssigen
Menschen, o.D., o.S., K11, A : Viertel, DLA.
55 BV, Exil, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 211.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359