Page - 65 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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  Außerhalb 
Österreichs 
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Entstehung 
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autobiografischen 
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gen ein paar Freunde, denen ich es zeige – Hermann Broch in Wien, oder St[efan]
Zweig – : jetzt um Gotteswillen herausgeben ! Und Verleger bieten sogar Vorschuss
dafĂĽr an. Ich schmelz es aber wieder ein und fange frisch an, denn inzwischen hat sich
der innere Strom verändert, so viel Neues ist da, das in Betracht gezogen werden muss.
Und alles, was in den letzten Jahren geschehen ist, die Emigration, Amerika, England,
die ganze innere und äußere Zerrissenheit, das Fehlen einer Gemeinschaft, ja sogar
einer Landschaft erschweren das Vorhaben. – Während in Gedichten, Novellen, Auf-
sätzen, die daneben entstehen, ein Ende […] bald erreicht ist, wird die große Unter-
nehmung zum Labyrinth.56
Unklar bleibt öfter, welche Teile der »großen Unternehmung« noch vor bezie-
hungsweise welche nach dem 12.Â
März 1938 entstanden, also vor oder nach dem
Datum, das den Beginn eines nationalsozialistischen Ă–sterreichs markierte. Das
»finis Austriae« 1938 vollendete für Viertel zwar einen schmerzhaften Abschied
von Ă–sterreich, der sich schon seit 1933 ankĂĽndigte, brachte aber auch neue
EndgĂĽltigkeit. Vorerst entstanden vor allem Essays ĂĽber die Lage in Ă–sterreich
(Selbstmörder, Ein Wiener, Heil dem Sieger !), über die mangelnden oder falschen
Reaktionen Großbritanniens (Der englische Friede) und über Möglichkeiten, sich
gegen »die politische Verbiesterung ohnegleichen« zu wehren (Ein Kollektiv von
Gedichten).57 Dann begann Viertel, auch sein autobiografisches Konzept in den
Bemerkungen zu »Finis Austriae« zu überarbeiten. An der äußeren Struktur än-
derte sich vorerst nicht viel, doch in einer Vorbemerkung wurde Wien nun zur
sagenhaften Stadt Vineta und ihre Rekonstruktion zur »Arbeit der nachträgli-
chen Treue« :
Wien ist fĂĽr mich, fĂĽr viele, fĂĽr alle ein Ort geworden, den nur die Erinnerung findet,
wenn der Wunsch ihn aufsucht. Auch diejenigen, denen es nicht verwehrt ist, die
Stadt, die auch heute noch Wien heißt, in ihrer Realität zu betreten, werden das Wien,
das wir kannten, das wir immer noch meinen, nur umso tiefer, umso schmerzlicher
entbehren müssen. Da ich den österreichischen Boden, seit er ein Teil des Dritten
Reichs geworden ist, in diesem Leben nicht mehr berĂĽhren werde, findet nur noch die
Phantasie den Weg zurück zu den Stellen, von denen mein Leben ausging. Ich könnte
also ebenso gut von Vineta erzählen, der im Meere versunkenen Stadt, als von Wien.
Es ist ein Phantasiegebilde außerhalb der geographischen Realität. Und so sind auch
die Menschen, welche in dieser Stadt gelebt haben und in meinem Buche leben wer-
den, Phantasiegestalten, die nie wieder wirklich, nie wieder möglich werden können.58
56 BV an Elisabeth Bergner, 23. November 1937, 91.15.11, K36, A : Viertel, DLA.
57 BV in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwindung, 1989, 53–115.
58 BV, Vorbemerkung, o.S., K19, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359