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schien ihm nun als »einst sehr liebes, jetzt durch schreckliche Krankheit entstell-
tes Wesen.«73 Umso weniger, fand Viertel, durfte nun beschönigt werden, wenn
dieser Krankheit oder Entstellung entgegengetreten werden sollte.
Diese Haltung wurde 1944 in einer öffentlichen Auseinandersetzung Viertels
mit dem Juristen, Regisseur und Schriftsteller Ernst Lothar deutlich. Lothar
war vor 1938 eine der zentralen kulturpolitischen Persönlichkeiten Österreichs
gewesen und war entschlossen, als solche auch zurĂĽckzukehren. Ende 1944 ver-
öffentlichte er in der Austro American Tribune seine »Österreichideologie«, die
dem Land »Sinn und Bestimmung« geben sollte.74 Er argumentierte darin, dass
nicht einmal die Sprache der österreichischen und deutschen Kultur gemeinsam
sei. Der »österreichische Kulturbegriff« habe seinen vollendeten Ausdruck im
Barock gefunden und stehe so seit jeher dem »Andachtsbegriff« nahe. Der deut-
sche Kulturbegriff hingegen sei dem »Machtbegriff« schon immer eng verbun-
den gewesen. So etwas könne nicht zusammengehen, das sei nicht zuletzt durch
den Nationalsozialismus klar geworden. Insofern war es für Lothar – nach all
der durch den deutschen Kulturbegriff verursachten Gewalt – nur logisch, dass
österreichische Kultur im Nachkriegseuropa richtungsweisend sein müsse. Wien
und die Festspielstadt Salzburg sollten als Kulturhauptstädte vor Berlin und
Weimar stehen. Österreichische Kultur sei, so Lothar, insofern »unentbehrlich«
fĂĽr ein Nachkriegseuropa, wenn nicht fĂĽr die ganze Welt.75
Berthold Viertel empörte diese Darstellung. Er antwortete auf Lothars Aus-
fĂĽhrungen unter dem Titel Austria Rediviva : Was die Sprache betreffe, so
Viertel, müsse gewiss »nicht jeder Dichter hochdeutsch schreiben […] aber das
störrische Versinken in die Mundart würde das neue Österreich unheilbar
provinziell machen.« Dennoch erregte dieser Aspekt weniger seine Sorge als
Lothars grundsätzliche Stilisierung Österreichs zur unschuldigen »Barocki-
dylle« :
Es ist nur zu verständlich, dass die einzelnen Nationen sich, im Gegensatz zur Raub-
kriegs-Theorie und -Praxis des Faschismus als Friedens- und Kulturmächte definieren
und etablieren wollen. Es fehlt in Österreich gewiss nicht an älteren und neueren
Voraussetzungen dazu. Das sollte nicht zu dem Versuch verleiten, das Gebäude von
der Kuppel her zu beginnen, paradox ausgedrĂĽckt, als ob man mit dem GrĂĽnspan alter
Dächer neue Häuser bauen könnte, sozusagen aus Patina. […] Die Barockidylle von
73 Viertel, Das unbelehrbare Herz, 1970, 447.
74 Huemer, Peter, Wie man Ă–sterreich erzeugt, in : Die Presse, 22. Oktober 2010 ; Rathkolb, Oliver,
Ernst LotharÂ
– Rückkehr in eine konstruierte Vergangenheit : Kulturpolitik in Österreich nach 1945,
in : Thunecke (Hg.), Echo des Exils, 2006, 279–295.
75 Lothar, Ernst, Zum Thema Ă–sterreich, in : Austro American Tribune, Dezember 1944, Vol. III, No. 5.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359