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  Innerhalb 
Österreichs 
– 
Konfrontationen 
mit 
»österreichischen 
Illusionen« |  81
festgestellt hatten : »Austria, the first free country to fall a victim to Hitlerite
aggression, shall be liberated from German domination«. Das offizielle Öster-
reich hatte in seiner Unabhängigkeitserklärung diesen Passus aufgegriffen und
zum zentralen GrĂĽndungsmythos der Zweiten Republik gemacht.28
Vergessen war dabei bald der sehr wesentliche zweite, Ă–sterreich betreffende
Teil der Moskauer Deklaration – Österreich habe »a responsibility, which she
cannot evade, for participation in the war at the side of Hitlerite Germany«.
Vergessen war damit auch die Realität der etwa 650.000 NSDAP-Mitglieder in
Österreich und der auffallend hohe Anteil von österreichischen TäterInnen im
nationalsozialistischen Vernichtungsapparat. Vergessen waren die pogromartigen
Ausschreitungen von 1938, die Plünderungen jüdischen Vermögens und vor al-
lem die jüdischen Opfer und Vertriebenen selbst.29 – Viertel hatte noch kurz
zuvor solche »Vergesslichkeit« einerseits nicht für möglich, andererseits für
höchst problematisch gehalten :
Wir dĂĽrfen nicht vergessen, was zu Hitler gefĂĽhrt hat und was unter Hitler geschah.
[…] Es ist zu hoffen, dass das neu begründete Österreich jedenfalls nicht eine träge,
vergessliche Nation beherbergen wird. […] Auf die Trägheit und Vergesslichkeit der
Österreicher ist nach dem, was ihnen passiert ist, kein Verlass mehr – sollte man
wenigs tens meinen. […] Dagegen Selbsterkenntnis : mit der hätte längst begonnen
werden sollen.30
Unter anderem im Kontext der parteiĂĽbergreifenden Exilorganisation Council
for a Democratic Germany, das auch in Reaktion auf das Nationalkomitee Freies
Deutschland in Moskau geschaffen wurde und dessen Hauptziel die Schaffung
einer »starken deutschen Demokratie« war, hatte Berthold Viertel als Vollmit-
glied und 1. Vorsitzender seines Kunstausschusses ab Oktober 1944 bereits ei-
nige Ideen, Visionen oder »Kulturphantasien« entwickelt, die seiner Meinung
nach grundlegend fĂĽr einen dauerhaften Frieden in einem demokratischen
28 Moskauer Deklaration – http://www.ibiblio.org/pha/policy/1943/431000a.html (zuletzt :
13.11.2016) ; Botz, Gerhard, Geschichte und kollektives Gedächtnis in der Zweiten Republik. »Op-
ferthese«, »Lebenslüge« und »Geschichtstabu« in der Zeitgeschichtsschreibung, in : Kos/Rigele
(Hg.), Inventur 45/55, 1996, 51–85.
29 Lichtblau, Albert, Integration …, in : Brugger, Eveline u.a. (Hg.), Geschichte der Juden in Öster-
reich [= Österreichische Geschichte, hrsg. von Herwig Wolfram, Zusatzband], Wien 2006, 447–566
und Entnazifizierung in Österreich« auf : http://de.doew.braintrust.at/m28sm129.html (zuletzt :
13.11.2016).
30 BV, Austria Rediviva, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwindung, 1989, 197–198.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359