Page - 103 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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zunehmend mit den »Besitzinteressen kapitalistischer Unternehmer« identifi-
ziert.17 Die gescheiterte Revolution von 1848 war fĂĽr Berthold Viertel der
Ausgangspunkt der modernen politischen Entwicklungen um Nationalität und
Internationalität in Österreich-Ungarn. Sie war, so schrieb er, der letzte ernst-
hafte Versuch, die vermeintliche »Naturgegebenheit« der Dynastie Habsburg
»wegzuräumen«. Ihre blutige Niederwerfung hatte die Habsburger zwar als un-
abdingbaren Integrationsfaktor bestätigt, aber »erspart« hatte sich die Monar-
chie nur scheinbar etwas :
[…] in Wirklichkeit ist die Revolution nie erstickt worden, ihre Märtyrer leben fort,
und sie scheint nur […] ihre Formen und Gesichter zu wechseln. Sie wird zur Unab-
hängigkeitsbewegung der in dieses Staatengebilde eingesperrten elf Nationen, zur
Irrendenta der Völker, die ihre grösseren Teile jenseits der Grenzen zu selbständigen
Staaten vereinigt wissen, und zu den sozialen Bewegungen, dem christlichsozialen
Aufstand der KleinbĂĽrger und dem proletarischen Sozialismus.18
Die von Viertel hier aufgezeigte enge Verbindung zwischen österreichischem
Liberalismus, Nationalismus und den aufkommenden Massenparteien ist inso-
fern erstaunlich, als in der Forschungtradition eben das Versagen eines angeblich
»rationalen«, aber elitären Liberalismus lange im Mittelpunkt stand und seine
Kontinuitäten und ideologischen Transformationen nicht gesehen wurden. Für
Stefan Zweig, der nach Viertel der »Generation der Väter« zuzurechnen war, war
der Liberalismus noch »rührend« idealistisch, ein »edler Wahn«.19 Für die »Soh-
nesgeneration« hingegen hielt Viertel fest : »Die Sünden des österreichischen
Liberalismus, dessen revolutionäre Tage vorüber waren, sind groß gewesen.«20
Viertel bemerkte zum einen den groĂźen Einfluss des Liberalismus abseits der
Politik – seine Werte und seine vorerst keineswegs ethnisch festgelegte »deut-
sche Identität« prägten das österreichische Leben.21 Zum anderen sah Viertel
den österreichischen Liberalismus, nachdem er 1897 seine etwa 40-jährige
parlamentarische Vorherrschaft im Parlament wieder abgeben musste, auch
politisch in anderen »Formen und Gesichtern« weiterleben : in den diversen
nationalen und sozialen Bewegungen ebenso wie in der christlichsozialen und
17 Timms, Edward, Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Leben und Werk 1874 bis 1918, Frankfurt
am Main 1999, 27.
18 BV, Ă–sterreichische Illusionen/Der Knabe Robert FĂĽrth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
19 Zweig, Welt, 1992, 16, 18 und 42 ; eine differenzierte Darstellung des »Liberalismus« lieferte auch
Fuchs, Albert, Geistige Strömungen in Österreich 1867–1918, Wien 1978, 5–39.
20 BV, Erinnerungen eines November-Verbrechers, o.D., 294, K19, A : Viertel, DLA.
21 Judson, Pieter M., Rethinking the Liberal Legacy, in : Beller (Hg.), Rethinking Vienna, 2001, 58–70,
60–67.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359