Page - 114 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Aber er ist kein Romantiker, sondern ein unerhört scharfer, ertappender Beobachter,
und mit Wachheit geschlagen, wie andere mit Blindheit.64
Berthold Viertel fand Weininger genial in seiner kompromisslosen Radikalität,
ohne dieser Radikalität jedoch kompromisslos folgen zu wollen. Obwohl viele
grundlegende Gedanken in Geschlecht und Charakter – wie der von der »Bisexu-
alität alles Lebenden«65 – gut aufgenommen wurden, verstörte Weiningers radi-
kale Misogynie wie auch sein Antisemitismus doch viele, auch wenn Zeitgenos-
sInnen die Biologismen und rassentheoretischen VersatzstĂĽcke in seinem Text
noch als »normale« und »moderne« wissenschaftliche Standards wahrnahmen.
Erst im RĂĽckblick aus dem Exil wurde Viertel und anderen klar, wohin solche
Modernität verbunden mit Dogmatismus auch führen konnte. Insofern verkör-
perte Weininger eine »dunkle« Seite der kritischen Opposition, die Viertel in
ihrem damals wahrgenommenen Potential wie auch in ihrer (weniger deutlich
wahrgenommenen) Problematik abbilden wollte, um ihre Faszination begreif-
lich zu machen.
Vorerst beobachtete er aber auch, dass solch kompromisslose »Söhne« wie
Weininger zu SelbstmörderInnen wurden. Dem französischen Soziologen
Émile Durkheim, der damals (wie auch der Philosoph und Politiker Tomáš
Masa ryk) einen zivilisationskritischen Suizidaldiskurs pflegte, waren die vielen
Freitode junger Menschen in Wien ein Beleg dafĂĽr, dass sich dort soziale Nor-
men und gesellschaftliche Bindungen in Auflösung befanden, die Zerstörung
also um sich griff.66 Grundsätzlich waren die WienerInnen zwar nicht wirklich
selbstmordgefährdeter als Menschen in anderen Städten und Regionen, aber
trotzdem beförderten suizidgefährdete Intellektuelle wie auch hohe Selbstmor-
draten unter SchülerInnen und Soldaten Debatten über »Suizidepidemien«, die
die kritische Modernität beeinflussten.67 Oskar Kokoschka bemerkte etwa, dass
es »merkwürdig« sei, dass er »so viele Selbstmörder und Geisteskranke« in sei-
nem Leben kennengelernt habeÂ
– »die Welt damals konnte doch nicht die beste
aller möglichen Welten sein.«68
Es wurde hier bereits deutlich, dass es nicht einfach ist, Kategorien wie »Er-
halt« und »Zerstörung« sauber voneinander abzugrenzen. Es gab im Gegenteil
64 BV, Ă–sterreichische Illusionen/Der Knabe Robert FĂĽrth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
65 Timms, Dynamik der Kreise, 2013, 79–81.
66 Leidinger, Hannes, Die BeDeutung der SelbstAuslöschung. Aspekte der Suizidproblematik in
Ă–ster
reich von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Zweiten Republik, Innsbruck/Wien/Bozen
2012, 40–41 und 73–74.
67 Ibid., 19–20, 84, 164–180, 328–355, 368–384 ; Le Rider, Jacques, Der Fall Otto Weininger. Wurzeln
des Antifeminismus und Antisemitismus, Wien 1985, 56–57.
68 Kokoschka, Mein Leben, 2008, 82.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359