Page - 120 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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ein Bürokrat geworden. […] Die Kerker werden während seiner Herrschaft nie von
politischen Gefangenen entvölkert sein. […] Im täglichen Leben […] verlässt er sich
ja doch in der Hauptsache auf sein Heer von ergebenen Beamten und auf seine Poli-
zei, der ein geschmeidiges Spitzelwesen angegliedert ist. In dieser Praxis hat fĂĽr ihn
der Vormärz nie aufgehört. Es wird überwacht, zensuriert, es wird an tausend unsicht-
baren Fäden gezogen, es wird hinausgezögert, ermüdet und überlistet.8
Die habsburgische Politik erschien den ZeitgenossInnen seit den 1850ern zu-
nehmend inkonsequent und zwiespältig. Victor Adler, der um 1900 die österrei-
chische Sozialdemokratie einigte und aufbaute, sprach von »Despotismus gemil-
dert durch Schlamperei«.9 In seiner neoabsolutistischen Machtausübung wurde
Franz Joseph immer wieder zu Kompromissen, Konzessionen und Kursänderun-
gen genötigt – aufgrund finanzieller Probleme, aufgrund gesellschaftlicher Ver-
änderungen, aber vor allem aufgrund von Kriegsniederlagen gegen Italien und
Deutschland :
Das Reich ist in schmählichen Schlachten [Königgrätz 1866] gehindert worden, es
hat die Ähnlichkeit mit dem alten römischen Kaiserreich deutscher Nation [Auflö-
sung 1806] eingebĂĽĂźt durch Verlust der italienischen Gebiete [Schlachten von Ma-
genta und Solferino 1859] und durch die noch verhängnisvollere Tatsache, dass es die
deutsche Oberherrschaft an die PreuĂźen abgegeben hat. Bismarck hat das Deutsche
Reich geeinigt und Ă–sterreich ausgeschlossen [1871]. Die Deutschen sind zwar in
Österreich scheinbar noch immer die Herren, aber die Ungarn […] haben den Dua-
lismus durchgesetzt [Ausgleich mit Ungarn 1867], und die übrigen Völker untermi-
nieren ständig diesen mit dem Doppeladler gekrönten Überbau.10
Mit dem Begriff »monarchisches Gefühl« versuchte Berthold Viertel etwas zu
beschreiben, das trotz all dieser Probleme das Reich zusammen und den Glau-
ben an die Dynastie Habsburg intakt hielt. Obwohl in den letzten Jahrzehnten
des 19. Jahrhunderts der mächtige »Habsburger-Mythos«11 in seiner Gesamt-
heit zu bröckeln begonnen hatte, wirkten auf Viertel neue, personalisierte My-
then in Gestalt der Familienmitglieder des Hauses Habsburg : Mythen um den
»alten« Kaiser, die »schöne« Kaiserin, den »liberalen« Kronprinzen oder die
8 BV, Ă–sterreichische Illusionen/Der Knabe Robert FĂĽrth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
9 Braunthal, Julius, Victor und Friedrich Adler. Zwei Generationen Arbeiterbewegung, Wien 1965,
41.
10 BV, Ă–sterreichische Illusionen/Der Knabe Robert FĂĽrth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
11 Begriffsprägung durch Claudio Magris, der 1966 den »habsburgischen Mythos« erstmals analysierte,
dabei aber selbst noch »vom Geist des Habsburger-Mythos« gewissermaßen infiziert blieb. (Magris,
Claudio, Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur, Wien 2000).
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359