Page - 126 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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einsame Naturen. Und es beleidigte ihren Stolz, dass die Kaiserin sich so wenig in
Wien aufhielt. […] Konnte man irgendwo besser leben ?40
Welche unhinterfragbare Bedeutung auch der Mythos um Elisabeth hatte,
versuchte Viertel in einer anderen Geschichte deutlich zu machen : Ein tsche-
chischer Hausbesorgerssohn klärte ihn als Knaben »brutal« über das Geschlechts-
leben auf. Nach einem kurzen Moment der »Bestürzung und Scham«, trium-
phierte das Kind Berthold : »Es konnte ja nicht sein ! Und wenn auch alle Frauen
der Welt […] fähig gewesen wären, das unnennbar Grausige zu erleiden : nie-
mals die Kaisern Elisabeth !«41 Auch in den Gebeten des »bürgerlichen, österrei-
chisch-ungarischen Knaben« war das Kaiserpaar eingeschlossen, die Kaiserin
besonders innig – wie in den Gebeten vieler ÖsterreicherInnen. Gebete, die
nicht erhört wurden, wie der Tod der österreichischen Kaiserin 1898 zeigte :
Als die Kaiserin Elisabeth später in der Fremde vom Stilett eines Meuchelmörders zu
Tode getroffen wurde, wurde ich zum Zeugen ihrer Heimkehr nach Wien, eines
Abends. Die StraĂźenlampen brannten niedrig, als der Katafalk mit der toten Kaiserin
langsam dahinfuhr, die Strasse war eingesäumt von vielen, vielen Zuschauern, die
Männer hatten die Häupter entblößt, und alle in der unabsehbaren Menschenmenge
schwiegen, jedoch konnte man das gedämpfte Weinen der Frauen […] hören, und nur
das. Die StraĂźe, durch die sich der Zug bewegte, hieĂź Mariahilfer StraĂźe, und auch
Maria hatte nicht geholfen. Wie viele der damals Anwesenden […] hatten […] für
das Wohl der Kaiserin gebetet, obwohl sie, die abwegige Einsamkeitssucherin, durch-
aus nicht allgemein beliebt gewesen war, und sie alle erfuhren nun, […] dass sie ver-
geblich, ohne Erhörung gebetet hatten.42
Abseits von anekdotischen Skandalgeschichten um den Erzherzog Otto – der
bei »Orgien« im Hotel Sacher nackt gesehen wurde, zahlreiche Liebschaften
pflegte, mit seinem Pferd ĂĽber den vor einem Leichenzug getragenen Sarg
sprang und »gerade deshalb ein Liebling der sogenannten Volksseele« war43 –
wollte Viertel auch noch ausführlicher die Geschichte des nächsten Thronfol-
gers Franz Ferdinand erzählen. Dessen Person und Vater-Sohn-Konflikt mit
dem alten Kaiser vervollständigten in seinen Augen die Darstellung der öster-
reichisch-ungarischen Monarchie. Franz Ferdinand heiratete nicht standesge-
mäß und ging damit einen weiteren Schritt in Richtung »Verbürgerlichung«.
40 BV, Konvolut Autobiographie. Ă–sterreichische Illusionen (3 Hefte), o.D., o.S., K19, A : Viertel, DLA.
41 BV, [Marie], in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 35–36.
42 BV, Tausend und ein Tag, 307, o.D., K12, A : Viertel, DLA.
43 BV, Wiederkehr des kleinen Lebens, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 45.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359