Page - 189 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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  Mitschüler 
Hitler |  189
Parallelen zwischen Hamsuns Figuren und dem »arbeitslosen Hitler […], wie er,
durch die Obdachlosenasyle Wiens irrend, rebelliert und seinen Putsch gegen
die Zivilisation plant«, sah Berthold Viertel erst im Exil, als sich ihm »die Ver-
wandtschaft der historischen und sozialen Konstellation auf[drängte].«24
Vor diesem Hintergrund setzte sich auch der Phrasenzersetzer Karl Kraus
mit dem Begriff »Rasse« auseinander und grenzte sich, je ernster es den politisch
Rassekundigen wurde, zunehmend von ihm ab. Kraus verwendete den Begriff
zwischen 1899 und 1936 rund 150 Mal in der Fackel : Schauspielerinnen, Kell-
ner oder eine schöne Frau konnten »Rasse« haben, aber es war durchaus unklar,
welcher »Rasse« die Österreicher eigentlich angehörten. Es gab für Kraus eine
»menschliche Rasse« oder auch eine »Rasse der Altruisten«. Schon relativ früh
leistete er »feierlichen Verzicht auf die Rasse« (1908) oder erklärte : »Mit der
Rasse kenne ich mich nicht aus« (1913).25 »Arisch« wiederum gebrauchte Kraus
im Anschluss an den Engländer Houston Stewart Chamberlain – den er durch-
aus stolz zu den frühen Mitarbeitern der Fackel zählte – als ideologischen Be-
griff und setzte ihn mit AnfĂĽhrungszeichen ab. Dennoch bleibt es irritierend,
dass es Kraus offenbar wichtig war, Chamberlain, der mit Die Grundlagen des 19.
Jahrhunderts (1899) einen einflussreichen Beitrag zum rassistischen Denken im
deutschsprachigen Raum leistete, in der Fackel zu bringenÂ
– und dies keineswegs
als Objekt seiner Satire.26
Berthold Viertels Gebrauch dieser Begriffe orientierte sich an Kraus. Einer-
seits meinte er, dass es gewisse schicksalshafte »Bestimmungen« gab : »Nenne es
Rasse, Volk, Kultur, Erbe oder Gewohnheit ; habe es angeboren, anerzogen, ge-
lernt, geübt, gedrillt in Dir – : du bist der Sklave davon, die Funktion davon.«27
Andererseits gebrauchte er häufig Wendungen, die den Begriff »Rasse« ad absur-
dum führten oder entlarvten : In seinen Texten schrieb er von »vermutlichen«
oder »internationalen Rassen« beziehungsweise von den »Volksmännern« Hitler
und Lueger als »Rassegenossen«. Er sprach von »deutschen Rassegläubigen«
und ironisch vom »Avancement eines Volkes in eine Rasse.« Oder er kritisierte,
dass Nietzsche »der Lehre von der Rasse bedenklich nahe kam«. Der »Rassen-
staat« war für ihn entsprechend eine »höchst anrüchige Ideologie«, die »kapita-
listische und machtpolitische Interessen verhüllt[e]« und das »Recht der Rasse«
an die Stelle des »Menschenrechts« setzte.28
24 Ibid., 219.
25 Vgl. http://corpus1.aac.ac.at/fackel/ (zuletzt : 24.11.2016).
26 Timms, Kraus, 1999, 324–325 ; Kouno, Performativität, 2015, 33.
27 BV, Tagebuch 1930, 10. Mai 1930, o.S., K22, A : Viertel, DLA.
28 Diverse Texte aus : A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359