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Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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  192  | Erinnerungsorte  der  Wiener  Moderne Lasst uns ein Wiener Kind vor einem fast halben Jahrhundert in einem jüdischen Haus geboren sein. […] Die sexuelle Aufklärung besorgten die Hausmeistersbuben, die politische Aufklärung die Volksschulkameraden. Und die eigentliche österreichi- sche Herzensbildung erfuhr es im Esterhazypark oder im Volksgarten beim ›Natio- nenspiel‹, wobei der Tschech und der Ungar, der Pole und der Kroat, ebenso wie der Delaware [Indianerstamm aus dem Lederstrumpf], der Grieche und der Römer einen Ball nachgeschossen bekam, und, wer besser »schoss«, die Ehre eines Volkes rettete, eines realen oder eines imaginären. Europa hat seitdem noch immer nicht aufgehört, Nationen zu spielen.40 Das belegte nicht zuletzt jener Fliegerabwehr- oder Flak-Turm, der 1943/44 im Esterházypark erbaut worden war  – also gerade dort, wo früher das »Nationen- spiel« gespielt worden war. Viertel dürfte dem Flak-Turm an dem für ihn so symbolträchtigen Ort bereits kurz nach seiner Rückkehr nach Wien begegnet sein : »Die Kälte, die der überragende Stein […] ausströmte, hatte etwas zu sa- gen, so stumm sie auch war. Sie erzählte, wie sich die Kinderträume des Natio- nalismus entwickelt und verwandelt hatten, als sie eines bösen Tages reif und erwachsen geworden waren.«41 Jeder Knabe42 wählte damals eine reale oder imaginäre »Nation«, die er »sein wollte«. Dabei orientierten sich die Kinder offenbar  – und wahrscheinlich unbe- wusst  – an der vieldiskutierten, auf Hegel und Engels zurückzuführenden Un- terscheidung in »geschichtslose« und »historische Nationen« (auch »Kultur- nationen«).43 Es gab verächtliche und unbeliebte Nationen  – solche die »noch nicht zur Macht gelangt waren«, wie die Tschechen, die Slowaken, die Serben, »in gewissen Sinn« die Ungarn, »die aber des romantischen Heldenschimmers von Freiheitskämpfern nicht entbehrten«, und jedenfalls die »Juden, damals Parias in der österreichischen Habsburgermonarchie des alten Franz Joseph«. Und es gab die historischen, großen europäischen Herrschernationen, wie die Franzosen, die Engländer, die »barbarischen« Russen oder die Polen. Amerika hatten die jungen Wiener noch nicht entdeckt. Berthold Viertel wählte meist 40 BV, Heimkehr nach Europa, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 277. 41 BV zitiert im Kommentar in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 277. 42 Geschlecht ist in Zusammenhang mit Nation für Viertel  – ebenso wie für die nicht-feministische Nationalismusforschung  – kein Thema. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass Mädchen im Nation- Spiel  – ausgetragen von den Schülern einer reinen Knabenschule  – mitspielten, was aber das Spiel insofern auch abbildete, war eine Einübung eines künftigen »Staatsbürgers des 19.  Jahrhunderts« in seine Rolle als »privilegierter Akteur im Feld des Politischen« (Gehmacher, De/Platzierungen, in : WerkstattGeschichte 32, 2002, 6–30, 24). 43 Maderthaner, Politik, in : Nautz/Vahrenkamp (Hg.), Wiener Jahrhundertwende, 1993, 759–776, 760–761 ; Hanisch, Illusionist, 2001, 97 ; Wistrich, Socialism, 1982, 335–343.
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Berthold Viertel Eine Biografie der Wiener Moderne
Title
Berthold Viertel
Subtitle
Eine Biografie der Wiener Moderne
Author
Katharina Prager
Publisher
Böhlau Verlag
Location
Wien
Date
2018
Language
German
License
CC BY 4.0
ISBN
978-3-205-20832-7
Size
15.5 x 23.2 cm
Pages
368
Category
Biographien

Table of contents

  1. Ein chronologischer Ăśberblick 7
  2. Einleitend 19
  3. 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
    1. Außerhalb Österreichs – Die Entstehung des autobiografischen Projekts 47
    2. Innerhalb Österreichs – Konfrontationen mit »österreichischen Illusionen« 75
  4. 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
    1. Moderne in Wien 99
    2. Monarchisches GefĂĽhl 118
    3. Galizien 129
    4. JĂĽdisches Wien 139
    5. Katholische Dienstmädchen 150
    6. Deutsche Kultur 161
    7. Luegers Wien 173
    8. MitschĂĽler Hitler 184
    9. Jugendliche Kulturanarchisten 196
    10. Familie Adler 209
    11. Studium 228
    12. Sexuelle Emancipation 245
    13. Karl Kraus 268
    14. Theater 291
    15. Erster Weltkrieg 310
    16. Nachsatz 333
    17. Archivalien 336
    18. Dank 342
    19. Literaturverzeichnis 344
    20. Bildnachweis 358
    21. Personenregister 359
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