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  Jugendliche 
Kulturanarchisten |  199
zu »Kulturanarchisten« machte, ist inzwischen selbst Schulstoff geworden – im
Falle Viertels handelte es sich um :
Strindberg und Wedekind, die er wörtlich nahm ; […] Schopenhauer Welt als Wille
und Vorstellung und […] Stirner Der Einzige und sein Eigentum ; […] Kant Die Kritik
der reinen Vernunft, […] Ibsen und Zola, Gespenster und Nana, […] Peer Gynt und
Brand ; […] Schnitzler und Hofmannsthal, Der Tor und der Tod und Gestern, die Ele-
gien des Wiener Olymp ; […] die erste Burgtheaterpremiere und Alfred Polgars
Kritiken ; […] den Simplicissimus an jedem Donnerstag, der den Anschluss an das
revolutionäre Deutschland gab.18
Das Größte und »Ärgste« aber war Knut Hamsuns Roman Hunger, der 1890
erschienen warÂ
– zugleich das erste Buch, das Viertel in der Leihbibliothek Last
in der Operngasse entlieh, wo er ein heimliches Abonnement abschloss.19 Ham-
suns innerer Monolog eines hungernden Dichters in feindlicher bĂĽrgerlicher
Umwelt wurde Viertel erklärtes »Lieblingsbuch«, Hamsun als »von der Gesell-
schaft ausgestoßenes« Genie sein Held. Das entsprach »dem anarchistischen
Lebensgefühl der damaligen Jugend«, denn »Hamsun war um die Jahrhundert-
wende der Abgott der bĂĽrgerlichen Intelligenz Europas, gerade wegen seines
verstockten Anti-Intellektualismus.«20
Nach diesem Leseerlebnis »gab es kein Halten. Der Minderjährige ver-
schlang täglich während des Unterrichts mindestens einen Band jener gefährli-
chen Dekadenzliteratur […], die anarchistischen und nihilistischen Totengräber
der bürgerlichen Literatur.«21 Zwar regte die Mittelschule durchaus zu Privat-
lektüre an, die in den Jahresberichten vermerkt wurde, doch lag es »völlig außer-
halb des Bereiches der damaligen Schulerziehung […], einem Schüler auf so
eigenwilligen und phantastischen Wegen zu folgen«22. Viertel selbst wiederum
konnte oder wollte in Physik und Mathematik nicht entsprechend folgen, fiel in
diesen Gegenständen durch und musste die vierte Klasse wiederholen : »Die
Quarta zum zweiten Mal, mit noch mehr Zeit für heimliche Lektüre.«23
18 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 103. In anderen Auf-
listungen wurden – mit wechselnder Gewichtung – auch noch Friedrich Nietzsche, Guy de Mau-
passant, Gerhart Hauptmann, Richard Dehmel und Fjodor Michailowitsch Dostojewski genannt.
19 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 78.
20 BV, Café Central [Heft I], o.D. [wahrscheinlich Dezember 1948], o.S., K19, A : Viertel, DLA ; BV,
Der Angeklagte Knut Hamsun, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwindung, 1989, 215–219.
21 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 78.
22 Ibid., 119.
23 Ibid., 103.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359