Page - 204 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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fünf Mal wöchentlich Altgriechisch auf dem Stundenplan. Direktor Thumser
unterrichtete Viertels Klasse. Er war weiterhin bemüht, »einerseits den berech-
tigten Forderungen der Neuzeit Rechnung zu tragen und dabei doch anderer-
seits den wertvollen Kern des alten Gymnasiums zu erhalten.« Unter seiner
Direktion wurden elektrisches Licht im Schulgebäude und sogenannte »Eltern-
abende« eingeführt.48 Dennoch repräsentierte er für Viertel eine »alte Zeit«, die
am Beginn des 20. Jahrhunderts mit der »neuen Zeit« in Konflikt kam : Auslö-
ser des Zusammenstoßes zwischen Viertel und Thumser war die »berühmte
Stelle der Ilias, als der gekränkte Achill sein Haupt in den Schoß der Halbgöt-
tin Thetis, seiner Mutter, barg und sich dort ausweinte«49. So ein Verhalten,
beeilte sich der fortschrittliche Grieche Viktor Thumser zu erklären, sei moder-
nen Offizieren – die um 1900 das Männlichkeitsideal verkörperten50 – nicht
mehr gemäß. Berthold Viertel empörte diese Umdeutung. Ihm machte gerade
sein Weinen Achill zu einem »modernen Helden« und er betrachtete es als
wichtigste Aufgabe der Kunst, die »unverstellte, unverhohlene Wahrheit« dar-
zustellen. Thumser wandte ein, ob nicht ein Dichter Menschen »mehr als die
Wahrheit zu geben habe, nämlich das Ideal ? – ›Nein‹, schrie der Schüler förm-
lich verzweifelt auf, als ginge es um Tod und Leben, ›das Ideal ist die Wahrheit !‹
Hier standen sie einander gegenüber, die ältere und die neue Zeit und schrien
sich an«51.
Die Diskussion um »Wahrheit und Ideal, Ideal und Wahrheit« wurde nach
der Schulstunde im Direktionszimmer fortgesetzt und Berthold Viertel argu-
mentierte mit Ibsen, Zola, Hauptmann, Dehmel und Hamsun – »jenen, damals
die Ă–ffentlichkeit erregenden Autoren, von denen der klassische Humanist nur
aus der LektĂĽre seines Leibblattes wusste, wie unersprieĂźlich und unerfreulich
sie waren«. Die Debatte endet mit einer Vorladung von Viertels Vater und der
Forderung, die »Privatlektüre« des »absurden Schülers« Viertel, eines »Irrgelei-
teten«, wenn nicht gar »Irrsinnigen« unter Kontrolle zu bringen.52 Doch dafür
war es zu spät.
Berthold Viertel war keineswegs der einzige von moderner Literatur »infi-
zierte« Schüler. Der nur wenig ältere Richard A. Bermann versuchte am k.k.
Erzherzog Rainer-Gymnasium im zweiten Wiener Gemeindebezirk sogar Ver-
botenes zu institutionalisieren :
48 Binn, Max : Geschichte des Mariahilfer Gymnasiums : Beiträge zur Geschichte seines Hauses, des
alten Palastes der Kaunitz und Esterhazy (1914), Sign.: B 59119, DS, WBR, 13.
49 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 107.
50 Hanisch, Ernst, Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20.Â
Jahrhunderts, Wien 2005, 17–28.
51 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 107–108.
52 Ibid., 109–112 und 117–118.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359