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Kulturanarchisten |  207
Es gab allerdings einige gleichgesinnte »Kulturanarchisten« im Umkreis des
Mariahilfer Gymnasiums, deren Namen in den Konzepten von Viertels autobio-
grafischem Projekt auftauchen, deren Geschichten aber höchstens ansatzweise
ausgearbeitet wurden : »Die CammerlohersÂ
– Der kleine MeyerÂ
– Franzl PollakÂ
–
Berny, Adalbert – Mauro, Ravetta – Gerber, Arthur – Schenkel, Adolf – der
Realist Fischer.«68 Drei Schulkollegen – Hermann Wlach, Alois Grünberger
und Wilhelm Karplus,69 der später Viertels Schwester Helene heiratete – wur-
den sogar zu lebenslangen Freunden.
Es sei etwas an diesen jungen Männern gewesen, erklärte Viertel zurückbli-
ckend, das ihn, »wenn auch in liebenswürdigerer Weise«, an André Gides Falsch-
münzer (1925), an Cocteaus Les Enfants Terribles (1929) oder »an die jungen
Übermenschen aus guter Gesellschaft in gewissen New Yorker Prozessen« erin-
nerte :70 Bei Gide versucht eine Gruppe von Gymnasiasten der bĂĽrgerlichen
Scheinwelt ihrer Eltern zu entkommen, um in Sphären der Kunst, Erotik und
Literatur einzutauchen – in ähnlicher Weise brachen die Wiener Kulturanar-
chisten »frühzeitig […] in das Leben aus.«71 Als Berthold Viertel sich viel später
an diese Periode seines Lebens erinnerte, stellte er fest :
Die Verführungen, Kämpfe, Dramen, Verbrechen der Pubertätszeit sind längst Sage
geworden. Es ist kaum möglich, sie heute, am Ende des Lebens, wiederzugeben, sie in
der Sprache, fĂĽr die Anschauungsart der Erwachsenen zu reproduzieren. Die Riesen
von damals, was ist aus Ihnen geworden ?72
Berthold Viertels »Kämpfe und Dramen« als Kulturanarchist wie auch die seiner
Sohnesgeneration zugeschriebene Unzufriedenheit mit der humanistischen
Bildungstradition des Gymnasiums spielten sich parallel zu anderen Kämpfe um
die Bildung und Ausbildung ab, die er allerdings mit keinem Wort ansprach :
Strafarbeit zwanzigmal »Ich will eine Ente werden« schreiben (BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bol-
becher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 73–74).
68 BV, Konvolut Autobiographie. Ă–sterreichische Illusionen (3 Hefte), o.D., o.S., K19, A : Viertel,
DLA ; BV, Konzepte in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 292–297 und Jahresbe-
richte Bundesgymnasium Wien 6 : Amerling Gymnasium, 1893–1905, Sign.: 766A, WBR. Aus-
gearbeitet wurde die Geschichte Adolf Schenkels – bei Viertel »Adamsberger« genannt – eines
Stipendiaten der IKG, der aufgrund einer erotischen Zeichnung der Schule verwiesen wurde (BV,
Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 100–103), sowie die Ge-
schichte des »roten Weiß« (BV, Der rote Weiß, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990,
150–164).
69 Die beiden Letzteren waren erst durch das Wiederholungsjahr Viertels Klassenkollegen geworden.
70 BV, Ă–sterreichische Illusionen/Der Knabe Robert FĂĽrth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
71 Ibid.
72 BV, o.T. [ZĂĽrich, 4. August 1948], in : Rotes Heft, o.D. [1948], o.S., NK16, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359