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würde«19. Das Studium war also insofern wohl nicht der prägendste Einfluss
dieser Lebensphase, doch aus Viertels studentischem Meldebuch und Texten
des autobiografischen Projekts wird deutlich, dass er doch zahlreiche Lehrver-
anstaltungen besuchte und verschiedenen Denkschulen begegnete :
Im Wintersemester 1904/05 beschäftigte er sich vorerst mit Fremdsprachen,
im Sommersemester 1905 meldete er sich zu einer Vorlesung über die »Haupt-
richtungen in der Philosophie der Gegenwart« bei dem Kantianer Robert Rei-
ninger an und hörte zugleich bei Professor Friedrich Jodl.20 In Reininger und
Jodl erlebte Viertel die beiden Pole des philosophischen Spannungsfeldes an der
Wiener Universität : Kant und Anti-Kant.
Generell war die österreichische Philosophie um 1900 positivistisch und an-
timetaphysisch ausgerichtet und wandte sich damit von in Deutschland vertre-
tenen idealistischen Strömungen, kantianschen und neokantianschen Denk-
schulen wie auch von katholisch fundierter Metaphysik ab. Diese Dominanz der
empirischen, deskriptiven Psychologie und der positivistischen Wissenschafts-
theorien als »Eigenart der österreichischen Philosophie« stand in der Nachfolge
von Leibniz, Locke und Hume und damit der »englischen« Tradition näher als
der deutschen. 21 Es gab aber auch in Wien entsprechende Gegenströmungen,
eben Kantianer wie Reininger oder (katholische) Metaphysiker wie Othmar
Spann und Dietrich von Hildebrand, spätere Theoretiker des Dollfuß/Schusch-
nigg-Regimes. Vorlesungen der beiden Letzteren sind in Viertels Meldebuch
nicht verzeichnet.
Friedrich Jodl war in diesem Sinne ein prototypischer Vertreter der österrei-
chischen »Hauptlinie« : Gegen den spekulativen Idealismus entwickelte er seine
»realistische, erfahrungsbezogene Wirklichkeitsphilosophie« und bereitete so
den Boden fĂĽr die Neopositivisten des Wiener Kreises. Seit der Physiker und
Wissenschaftstheoretiker Ernst Mach – der »das Ich […] in ein Bündel zufälli-
ger Sensationen«22 aufgelöst hatte – 1898 zu unterrichten aufgehört hatte, galt
der aus Bayern stammende sozialliberale Aufklärer Jodl als der interessanteste
Philosoph und Psychologe an der Wiener Universität. Er setzte sich aktiv für die
19 BV, Die Zwischenwelt, o.D., o.S., NK05, A : Viertel, DLA.
20 Nationalen der philosophischen Fakultät, Wintersemester 1904/05 und Sommersemester 1905,
AUW.
21 Csáky u.a., Pluralitäten, Heterogenitäten, Differenzen. Zentraleuropas Paradigmen für die Moderne,
in : Csáky u.a. (Hg.), Kultur, 2004, 13–44, 27–28 ; Haller, Rudolf, Philosophy – Tool and Weapon,
in : Stadler, Friedrich und Weibel, Peter (Hg.), Vertreibung der Vernunft/The Cultural Exodus from
Austria, 2nd, rev. and enlarged edition, Wien 1995, 80–87, 83–84 ; Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich,
Vergessene Impulse der Wiener Philosophie um die Jahrhundertwende, in : Nautz/Vahrenkamp
(Hg.), Wiener Jahrhundertwende, 1993, 181–201.
22 BV, Geburtstage. Skizze einer Epoche, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Ăśberwindung, 1989, 192.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359