Page - 233 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Volksbildung ein und trat gegen den Einfluss der katholischen Kirche auf. Otto
Weininger hatte bei ihm dissertiert.23
Berthold Viertel besuchte vor allem in den ersten Semestern immer wieder
Jodls Vorlesungen. Auch zwei andere Professoren, die diese moderne Richtung
der österreichischen Philosophie vertraten, tauchen mehrfach in Viertels Mel-
debuch auf : Wilhelm Jerusalem und Heinrich Gomperz. Wenn Viertel später
ĂĽber christliche Metaphysik, deutschen Idealismus und Erkenntnistheorie nach-
dachte, klangen die Lehren dieser Schule in seinen Texten nach : »Seltsam, wie
der Mensch erst lernen musste, die Welt als ĂĽbersinnliche Offenbarung hinzu-
nehmen, bevor er lernen konnte, die Natur im Experiment zu stellen, sie sich
mit Hebeln und Schrauben zu erschließen.«24 Gegen den philosophischen
Trend Wiens war und blieb allerdings auch Kant, den er in sich »hineinfraß«, für
Viertel eine Instanz und einer der »großen Lehrer Europas«25.
Insgesamt lehrte die Universität Wien – zwischen Kant und Anti-Kant, zwi-
schen Metaphysik und Positivismus – Viertel wahrscheinlich vor allem »die
Dichotomie des Rationalen und Irrationalen« und »ihr Nebeneinanderbestehen
als zwei selbständige Mächte« : »[…] eine Dichotomie, die nicht nur Ausgangs-
punkt der Spekulationen Otto Weiningers war, sondern auch in der Massenpsy-
chologie von Viertels Freund Hermann Broch fast reflexhaft nachwirkt.«26
In den späteren Semestern wählte Viertel vermehrt literaturwissenschaftliche,
historische und psychologische Vorlesungen und beschäftigte sich mit Kleist
und Walther von der Vogelweide. Vor allem die literaturwissenschaftlichen Vor-
lesungen inspirierten ihn allerdings wenig :
Als jugendlicher Student der Wiener Universität betrat ich erwartungsvoll den Hör-
saal des dort damals herrschenden Germanisten [wahrscheinlich Jakob Minor]. Es
wurde gerade von einem Zettel gehandelt, durch den Frau Körner an Frau Schiller –
oder Frau Schiller an Frau Körner – eine Wäscherin empfohlen hatte. Die Gründ-
lichkeit solcher Erörterung erschreckte mich und ich floh – vorzeitig, wie ich heute
weiĂź.27
Interessant könnten für Viertel hingegen die Vorlesungen des jungen Privatdo-
zenten fĂĽr Sozialphilosophie und Ă„sthetik, Emil Reich, gewesen sein. Dieser
repräsentierte zwei ganz neue Nebenlinien an der philosophischen Fakultät –
23 Fuchs, Geistige Strömungen, 1978, 133–162 und 199–224.
24 BV, Der posthistorische Mensch/Der Schmelztiegel, o.D., 73, K12, A : Viertel, DLA.
25 BV, Die Primitivisierung Europas nach dem Kriege, o.D., o.S., NK10, A : Viertel, DLA ; BV an
Alfred Polgar, undatiert [um 1950], 91.15.218, K32, A : Viertel, DLA.
26 Roessler/Kaiser, Nachwort, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Ăśberwindung, 1989, 394.
27 BV, Aus dem Heldenleben der deutschen Literatur, o.D., 257, K13, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359