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und viertens für die »Entlastung der Sodomie«.38 Da »unnormale Triebe« gerade
bei jenen Menschen erkennbar wären, »deren Leistungen im besten Sinne des
Wortes unnormal genannt werden müssen« – bei »großen Künstlern und Den-
kern« – dränge der »Glaube an die menschliche Entwicklungsfähigkeit in kul-
tureller Hinsicht« zur »Forderung nach freier Sinnlichkeit«.39 Für Berthold
Viertel hatte Soykas Interpretation von »Perversitäten als Ausdruck einer Art
von schaffender Liebe, d. h. eines Eros, der […] auf Ideenzeugung abzielt«, etwas
»durchaus Überzeugendes und Enthusiasmierendes« :
In seiner Philosophie verbanden sich Schopenhauer, Ibsen mit Freud und Marquis de
Sade. […] Sie erklärte die Kunst, die großen Männer, das Menschlichkeits-Entwi-
ckelnde im Verhältnis von Mann und Weib, von Mann und Mann. Dort wo Freud als
Gesundheit das BĂĽrgerlich-Normale vorschwebt, wurden von Soyka das Unter- und
Überbürgerliche […] fundiert.40
Als sich Viertel am 3. August 1948 mit diesen Worten an seine Freundschaft
mit dem »vielleicht merkwürdigsten, wenn nicht denkwürdigsten Menschen
meiner Jugend«41, erinnerte, waren die beiden einander gerade in Zürich wieder-
begegnet und behandelten sich eher als entfernte Bekannte denn als Freunde.
Zwischen 1908 und 1914, als Karl Kraus fĂĽr Viertel immer wichtiger wurde, zog
sich Otto Soyka zunehmend aus diesem Kreis zurück. Viertel rezensierte später
Soykas RomaneÂ
– und gab sich dabei fast schon als »Philister«, wie er Karl Kraus
gegenĂĽber selbstkritisch anmerkte ;42 doch ansonsten ist kaum mehr etwas ĂĽber
diese Beziehung, die Zusammenarbeit und ihr Ende zu erfahren.43
Auch abseits von Soyka blieb es bei Viertels Einsatz für eine »Sinnlichkeit«,
die »keine Konventionen [kannte]«44 Auch die moderne Literatur inspirierte
wiederum zu einem Leben gegen gesellschaftliche Normen in der »sexuellen
Frage« – etwa Frank Wedekind, der »Un-Moral-Trompeter« und »Vorkämpfer
38 Ibid., 61–78 und 84–85. Soyka berief sich hier auf Freud, der gemeint hatte : »Die Allgewalt der
Liebe zeigt sich vielleicht nirgends stärker als in ihren Verwirrungen.«
39 Ibid., 81 und 86.
40 BV, o.T. [ZĂĽrich, 4. August 1948], in : Rotes Heft, o.D. [1948], o.S., NK16, A : Viertel, DLA.
41 Ibid.
42 BV, Neue Menschen, in : Karl Kraus, Die Fackel 311–312 (1910), 40–47.
43 Briefe Otto Soykas an BV, 1933–1951, K44, A : Viertel, DLA. Verschlüsselt verarbeitete Viertel
die Lehrer-SchĂĽler-Beziehung auch in seinem Ariadne-Fragment : Soyka wurde in der Figur des
Lehrers Martin, die die ersten Kapitel beherrschte, ein »Denkmal gesetzt« (BV, Ein Pfuscher/Der
ĂśberflĂĽssige/Ich liebe dich, Ariadne. Aus den Papieren eines ĂĽberflĂĽssigen Menschen, o.D., o.S.,
K11, A : Viertel, DLA).
44 BV, Erinnerung an Peter Altenberg, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 135.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359