Page - 256 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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bensvorstellungen lag. Gerade Töchter des jüdischen Bildungsbürgertums
interessierten sich früh für Universitätsstudien. Ab 1897 waren Frauen an der
philosophischen Fakultät der Universität Wien zugelassen und 37 Pionierinnen
nahmen sofort das Studium auf – dieser 0,4-Prozent-Anteil stieg rasch an. Als
Grete und Anna RuĹľiÄŤka 1906 nach Wien kamen, waren bereits 10 Prozent der
Studierenden Frauen ; auch die medizinische Fakultät stand ihnen mittlerweile
offen.63
Die beiden Schwestern lebten vorerst zusammen in wechselnden Wohnun-
gen im 7. und 8. Wiener Gemeindebezirk. Anna RuĹľiÄŤka studierte Medizin,
doch um 1909 verliert sich ihre Spur im Archiv der Universität Wien.64 Grete
Ružička selbst inskribierte Chemie an der philosophischen Fakultät und war
offenbar eine herausragende Studentin. Im Wintersemster 1909/10 verlieh ihr
das Professorenkollegium ein Ludwig-Barth-Stipendium und 1910 dissertierte
sie Ueber Galloflavin. Ihr Professor, der österreichische Chemiker Josef Herzig,
publizierte die Ergebnisse unter Nennung ihres Namens. Sie teilte zudem Bert-
hold Viertels philosophische Interessen und besuchte mit ihm zusammen ab
dem Sommersemester 1908 immer wieder Vorlesungen.65
Auf einige Studenten wirkten solche weiblichen Studienerfolge sicher verstö-
rend und auch für die Frauen selbst gab es kaum noch Vorbilder. Grundsätzlich
herrschte nämlich die »Auffassung, dass die zunehmende Zahl gebildeter
Frauen den Arbeitsmarkt empfindlich stören und eine Gefahr für das Familien-
lebenÂ
– und damit fĂĽr das ganze gesellschaftliche GefĂĽgeÂ
– bedeuteten würde.«66
Tatsächlich begegneten solche Frauen dem bürgerlichen Familienmodell mit
Skepsis und waren am Entwurf alternativer Lebensformen interessiert. Und in
diesem Interesse traf sich Grete RuĹľiÄŤka mit Berthold Viertel. Die Idee, dass
»sexuelle Emancipation« und Unabhängigkeit durch das Eingehen einer Alibi-
Ehe zu erreichen war, erscheint dabei sehr ungewöhnlich, doch genau das war,
so Viertel, der Grund für seine Eheschließung am 24. November 1912 im jüdi-
schen Bethaus in der Schmalzhofgasse :67
63 Heindl, Waltraud, Bildung und Emanzipation. Studentinnen an der Universität Wien, in : Ash/
Ehmer (Hg.), Universität, 2015, 529–564 ; Pass Freidenreich, Harriet, Gender and Identity. Jewish
University Women in Vienna, in : Stern/Eichinger, Jüdische Erfahrung, 2009, 297–306.
64 Wahrscheinlich heiratete sie, denn in Briefen um 1917 wurde sie als Frau Dr. Reiß erwähnt, die
im noblen Sanatorium Schatzalp in Davos an Tuberkulose »dahinstarb«. (Grete Viertel an Albert
Ehrenstein, o.D. [1917], 69.3094, K52, A : Viertel, DLA).
65 Nationalen der philosophischen Fakultät 1906–1910 ; Rigorosen-Akt PN 3011 Fol.8, AUW.
66 Holmes, Schwarzwald, 2012, 55.
67 Traubuch 1912 des Matrikenamtes der IKG Wien.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359