Page - 277 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Kraus |  277
Viertel gab zu, glĂĽcklich zu sein, dass Ehrenstein die Verbindung mit Kraus
wiederhergestellt hatte. Und er begann, sein Versprechen einzulösen und über
Kraus zu schreiben »so gut und so ausführlich ich nur kann.«50 Der Essay Karl
Kraus. Ein Charakter und die Zeit entstand. Obwohl sich Kraus offiziell nie zu
dieser Charakterstudie äußerte, wurde in der Fackel auf den Text verwiesen.
Viertel nannte Kraus in dieser Schrift Anti-Literat, Vorläufer, Prüfer, Timon,
Widerspruchsgeist, Eigensinniger, Tyrann, KĂĽnstler, Spielverderber, Anti-Auto-
rität, Zeuge, Eiferer, Visionär und Antipode. Vor allem aber wurde ihm Kraus –
unter Einfluss des Buberschen Kulturzionismus – zum »Propheten« und damit
»Erzjuden«, der in der Tradition »alttestamentarischer Zürner« sein »Volk«, die
»Rotte Korah« angriff.51 Es ging ihm darum, erklärte er später, Kraus Wirkung
als »geistiger Täter« und »sozialer Revolutionär« zu verdeutlichen – in der For-
schung wurden diese Zuschreibungen allerdings sehr skeptisch aufgenommen.52
WidersprĂĽche gab es weiterhin, doch mittlerweile vertrauten Kraus und Vier-
tel darauf, dass »Humanität, Menschenliebe« sie trotz gelegentlichen Meinungs-
unterschieden verband.53 Berthold Viertel schloss in diese »Menschenliebe«
nach wie vor öfter auch Kraus’ GegnerInnen ein und nahm es mit dessen Kate-
gorien nicht so genau, wenn er sich fĂĽr den frĂĽhen Film und Jazz interessierte.
Er hielt aber auch die Spannungen aus, die sich durch seine Arbeit in der The-
ater- und Filmbranche ergaben, wo er als »Krausianer« als entsprechend kom-
promisslos verschrien war :
Später, als ich das Theater zu meinem Beruf gemacht hatte, […] kämpfte ich weiter
um jedes Wort auf der Bühne, als ob ich es vor Karl Kraus – nein, vor sich selber
verantworten müsste. So habe ich freilich […] die äußerliche Vollendung vernachläs-
sigt […] [und] soweit die Zeit und Kraft reichte, das Wort betreut. Und so habe ich
mir manchen oberflächlichen Tadel – gerne ! – zugezogen.54
Auch politisch gab es Abweichungen, trotz einer beiden Männern eigenen »An-
tibürgerlichkeit« : Während der »Philister« für Kraus keine sozioökonomische
Kategorie war, sondern vielmehr ein »Haufen herzlos spießiger Lebens einstel-
50 BV an Albert Ehrenstein, 6. Juni 1916 bzw. 4. November 1916, 69.2042/5 bzw. /10, K31, A : Viertel,
DLA.
51 BV, Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit, in : Ginsberg (Hg.), Viertel, Dichtungen und Doku-
mente, 1956.
52 BV, K. K. Erzjude, in : Arbeits-/Notizheft, o.D., 69.3143/97, K27, A : Viertel, DLA ; Timms, Kraus,
2005, 179. Andere gingen in die Krausforschung ein, wenn Viertel auch oft nicht namentlich ge-
nannt wurde.
53 BV an Ludwig MĂĽnz, 14. November 1935, 78.849/4, K32, A : Viertel, DLA.
54 BV, Karl Kraus, der Erzieher, o.D., o.S., K14, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359