Page - 285 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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geliefert wurde, durch einen nationalsozialistischen Putsch getötet wurde,
verstärkte die Endgültigkeit von Kraus’ Position. Es gab keine Chance mehr
zum »[U]mlernen« – ein Begriff, den Kraus und Viertel gern benutzten.93 Den
»Nervenchok Intellektueller« angesichts seiner Haltung nahm Kraus »als das
kleinste Übel hin«94. Tatsächlich waren viele schockiert. Die sogenannte Doll-
fuß-Fackel »bekümmerte« den Dichter Bertolt Brecht, sie »beschämte« den
Kraus-Verehrer Elias Canetti, dem Kraus zum »Hitler der Intellektuellen«
wurde, und sie empörte zahlreiche sozialdemokratische Flüchtlinge.95
Berthold Viertel schwieg vorerst. Etwa ein Jahr später, am 28. Juni 1935,
wurde er 50Â Jahre alt. Karl Kraus schickte ein GlĂĽckwunschtelegramm. Mehr-
fach ermahnte Ludwig MĂĽnz ihn zu antworten, da Kraus sein Schweigen bereits
ĂĽbelnahm.96 Da brach es aus Viertel heraus : Ludwigs Ermahnung sei sicher
»lieb« gemeint, doch es sei immer noch seine Sache, ob und wann er an Kraus
schreibe : »Glaube mir : ich ermahne mich oft genug selbst daran. Dass ich es
noch immer nicht getan habe beruht weder auf Zeitmangel noch auf Nachläs-
sigkeit. Die Hemmung sitzt tiefer.« Telegrafisch habe er Karl ja bereits 1934 um
ein aufklärendes Gespräch gebeten. Aber eine überstürzte Abreise nach Ame-
rika kam dazwischen – und eben :
Jene Nummer der Fackel, die sich mit den Februarkämpfen der Wiener Arbeiterschaft
beschäftigt. Als ich sie las, wünschte ich, ich hätte nicht bis zu ihrem Erscheinen ge-
lebt. Mir wurde physisch übel vor Traurigkeit. […] Gewiss, es war sein Recht und
seine Pflicht zu schreiben, wie er dachte und fĂĽhlte. Ich habe es auch seither so vielen
Menschen gegenüber verteidigt. Aber ich höre nicht auf, es zu beklagen. […] Ich habe
nichts vergessen, ich bleibe Karl Kraus immer dankbar fĂĽr die Lehre, die ich bei ihm
genossen habe und die mein Leben und meine Arbeit beeinflusst hat. Ich liebe auch
den Menschen immer noch. Aber es wird mir schwer ihm zu schreiben ohne dieser
Fackel Erwähnung zu tun. […] Was uns trennt, ist leider nicht eine Sache des Geistes,
nicht eine Sache der Wahrheit und gewiss nicht eine Sache der Politik – es ist eine
Herzenssache. Mein Herz mag Unrecht haben, aber es besteht auf seinem GefĂĽhl. Es
ist ohnehin nicht mehr weit bis zum Tod […]. Nachher mag jener große Jom Kippur
kommen, an dem wir uns gegenseitig alles verzeihen. Vielleicht werde ich mir dann
93 Die Fackel 890–905 enthielt zwar Teile der Dritten Walpurgisnacht, die erst 1952 posthum erschien,
doch wesentliche Passagen der Analyse des Nationalsozialismus fehlten. So ĂĽbte Kraus in die-
sem Heft vornehmlich Kritik an der Sozialdemokratie, ihren Medien und ihrer FĂĽhrung im Exil
(Timms, Kraus, 2005, 482–487 ; Ganahl, Karl Kraus, 79–80).
94 Karl Kraus, Die Fackel 890–905 (1934), 294.
95 Bertolt Brecht 1934 und Elias Canetti 1934, in : Pfäfflin (Hg.), Nähe, 2008, 304–306 ; Timms, Kraus,
2005, 385–386 ; Würtz, Karl Kraus contra, 1997, Bd 4, 63–342.
96 Ludwig MĂĽnz an BV, o.D. und 5. November 1935, 69.2616/8 und 69.2616/9, K42, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359