Page - 295 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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würden strotzenden Beamten des alten Burgtheatertons« verhinderte die Bil-
dung eines Ensembles, das für ihn die »Seele« des modernen Theaters ausmachte.
Wien war seiner Meinung nach längst von Berlin, ja sogar von »mancher deut-
scher Provinzstadt, theaterkünstlerisch übertrumpft« worden und »exportierte
seine jungen Talente, um sie loszuwerden, da es mit ihnen nichts anzufangen
weiß«17. Die vielfach beschworenen Krisen des Burgtheaters nahm er nicht ernst,
denn »das Burgtheater überlebte sie alle, so wie es auch uns überleben wird. Es
wird ein Burgtheater sein und wir werden nicht mehr sein.« Auch wenn er sich
dort »am innigsten […] langweilte«, fand er die »Burgtheaterfrage« doch durch-
aus »lehrreich«.18
Abseits des Burgtheaters übte »fremdländisches« und »primitives« Theater
eine große Faszination auf die Modernen Wiens aus. Anfang 1902 kam die
vormalige Geisha Sada Yakko mit ihrer japanischen Truppe nach Wien und
faszinierte Berthold Viertel :
Ihr zierlicher Anstand, das Ausgesparte des Persönchens machte mich damals völlig
verrückt. Ich glaube, in unserer gröberen Welt nicht mehr leben zu können. Gar zu
gerne hätte ich mich der Truppe angeschlossen, auf ihren ferneren Reisen durch Eu-
ropa mit Japan als Endziel. […] Ich ging täglich in die Vorstellung und versuchte, ein
Teil von ihr zu werden.19
Oskar Kokoschka nahm ebenfalls diesen Kult um Exotisches und Primitives auf
und setzte seine »Kenntnisse aus dem Völkerkundemuseum« ein, als er im Juli
1909 mit der Aufführung seines Stückes Mörder, Hoffnung der Frauen einen
»Piloten des Expressionismus« produzierte, um Wiens Kulturszene »beabsich-
tigt in Rage« zu versetzen :
Die wilde Stimmung wurde musikalisch mit dumpfen oder rasselnden Trommelschlä-
gen und schrillen Pfeiftönen erhöht und durch eine in grellen Farben wechselnde
Beleuchtung gesteigert. Begeistert spielten meine Akteure […]. [L]aufen, springen,
stehen und fallen konnten sie wie keiner der Hofschauspieler, von denen einer oft eine
halbe Stunde brauchte, um sich zum sterben hinzulegen. Die Gesichter und Körper,
soweit sie nackt blieben, hatte ich bemalt. […] Von den präparierten Totenschädeln
der primitiven Völker hatte ich gelernt, wie man diesen […] die Züge des Lebens,
17 BV, Millenkovich
– Heine, in : Heidenreich (Hg.), Berthold Viertel Schriften, 1970, 361–364 ; Ha-
damowsky, Wien. Theatergeschichte, 1988, 412–415.
18 BV, Das Burgtheater, in : Heidenreich (Hg.), Berthold Viertel Schriften, 1970, 235 ; BV, Wien, die
Theaterstadt, o.D. [um 1918], 142/c, K30, A : Viertel, DLA. Professionell hatte Viertel bis 1948 nie
mit dem Burgtheater zu tun und anscheinend auch keine Ambitionen in diese Richtung.
19 BV, Sada Yakko, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 138.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359