Page - 299 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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sie anstrebte, zu den grundlegenden Missständen im soziokulturellen Bereich :
»Aber aus Anarchisten werden Sozialdemokraten, aus Sozialdemokraten Redak-
teure, aus Redakteuren Theaterdirektoren.«38
Obwohl es also vielfache BerĂĽhrungspunkte und wohl auch Kontakt gab,
hielt Berthold Viertel Stefan GroĂźmann somit vorerst wahrscheinlich fĂĽr eher
unseriös39Â
– seine Wiener Freie Volksbühne vereinte dann aber doch bestechend
viele von Viertels Anliegen :
Bereits ihr GrĂĽndungsaufruf im Juli 1906 war ein Rundumschlag gegen die
bourgeoise Wiener Theaterlandschaft und ihren »theatralischen Schund«. Im
Gegensatz dazu wollte die Freie Volksbühne Stücke bringen, die »in Wien sonst
kein Obdach haben.«40 Vorbilder waren das Pariser Théatre libre und die Freie
VolksbĂĽhne Berlin, die sich durch VereinsgrĂĽndungen von Bevormundungen
durch Zensur und gesellschaftliche Konventionen unabhängig gemacht hatten
und eine grundlegende Erneuerung des Theaters durch sozialkritische und na-
turalistische Dramatik anstrebten – nun sollte diese Dramatik endlich auch in
Wien etabliert werden. Publikumsorganisation und -beteiligung sollten ein
»echtes Volkstheater« garantieren, das als »Produkt schöpferischer Volkskraft«
zudem an alte Wiener Volkstheatertraditionen anschloss.41 Nicht zuletzt spra-
chen stetig steigende Mitgliederzahlen für diese neue Art von Theater – hatte
die VolksbĂĽhne 1906/07 erst 3.520 Mitglieder verzeichnet, so waren es 1910/11
bereits 14.299.42
Am 21.Â
Oktober 1906 war die Wiener Freie VolksbĂĽhne programmatisch mit
der deutschen Erstaufführung des symbolistischen Dramas Zu den Sternen eröff-
net worden. Auch in den folgenden Jahren waren Eigenproduktionen von mo-
dernen russischen, skandinavischen, englischen und deutschen AutorInnen die
Stärke des neuen Theaters, das große Produktionen auch deshalb schwer stem-
men konnte, weil es nicht nur seine BĂĽhne, sondern auch sein Ensemble fĂĽr jede
Produktion neu »anmieten« musste.43 Für Berthold Viertel ging im Rückblick
38 Kraus, Die Fackel 343–344 (1912), 3 ; Kouno, Performativität, 2015, 19–52 ; Zucker, Großmann,
2007, 23–31.
39 Abseits des Begräbnisses von Kainz begegneten die beiden einander wahrscheinlich im Café Cen-
tral und bei der Familie Lang. Erwin Lang, ein Maler, der auch mit Kokoschka arbeitete, und seine
spätere Frau Grete Wiesenthal und Rudolf Forster waren zudem alle mit Viertel befreundet und
frĂĽh an der VolksbĂĽhne aktiv.
40 Anna Grünwald, Die Wiener Freie Volksbühne, Wien 1932 [Diss.], 36–39.
41 Zucker, Großmann, 2007, 121–166 ; Grünwald, Wiener Freie Volksbühne, 1932, 22–24.
42 Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, 1988, 777–787.
43 Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, 1988, 780–781 und Zucker, Großmann, 2007, 121–166.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359