Page - 302 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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302 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
wahrscheinlich vor allem von Kraus – wurde die Volksbühne, die zu dieser Zeit
auch seine Freunde Hermann Wlach und Rudolf Forster als Ensemblemitglie-
der zu gewinnen suchte, immer interessanter. Ende Dezember 1911 teilte er
Wlach mit, »daß ich mit dem Schauspielhaus der freien Volksbühne in eine
dauernde Verbindung zu kommen im Begriffe bin. […] Ich verspreche mir sehr
viel von den künstlerischen Möglichkeiten des neuen Theaters und freue mich
aufrichtig, dabei mittun zu können.«54 Wenig später schloss Viertel mit dem von
Arthur Rundt begründeten Konsortium Wiener Schauspielergesellschaft einen
Vertrag ab
– er trat als Dramaturg und Redakteur des Strom ein und sollte »auch
Regie führen lernen«. In der Skodagasse 14–16 bezog er sein »interimistisches
Bureau«.55
Das Jahr 1912 stand für die Volksbühne ganz im Zeichen der kommenden
Eröffnung des neuen, eigenen Hauses. Schon im Frühjahr 1911 hatte die Volks-
bühne einen Baugrund im 8. Bezirk in der Skodagasse/Ecke Daungasse erwor-
ben. Seit April 1912 gab es die »prinzipielle Bewilligung«, ein Theater zu errich-
ten, und der junge Theaterarchitekt Oscar Kaufmann plante einen
demokratisch-amphitheaterhaften Zweckbau. Die Betonfirma Pittel + Brause-
wetter hatte bereits mit der Ausführung begonnen, als im Juli 1912 unerwartet
die Nachricht eintraf, daß die Bauarbeiten »infolge eines Gutachtens der nieder-
österreichischen Theaterlandeskommission eingestellt werden mussten«56.
Großmann witterte Intrigen, doch vorerst gab die ans Improvisieren gewöhnte
Volksbühne nicht auf. Aufführungsverträge waren bereits abgeschlossen, ein
Ensemble engagiert und 26.000 Mitglieder warteten auf Vorstellungen. In der
Neubaugasse 36 wurde ein Kinosaal so rasch wie möglich adaptiert und für die
ersten drei Monate der Spielzeit wich die Volksbühne in die Sophiensäle aus.57
Für Berthold Viertel war diese hektische Zeit eine »glückliche«. Großmann
war stolz auf seinen jungen Dramaturgen, den er, Viertels bisherige Arbeit für
Kraus schlicht ignorierend, »fast vom Gymnasium weg« engagiert haben woll-
te.58 Tatsächlich war Viertel 1912 bereits 27 Jahre alt und in der Szene kein
Unbekannter. Und er setzte sein Netzwerk erfolgreich ein, um Autoren wie
Albert Ehrenstein, Anton Wildgans oder Hermann Essig für den Strom und die
Volksbühne zu gewinnen.59 Es gelang ihm sogar, der Volksbühne die Rechte an
Gerhart Hauptmanns neuem Werk Gabriel Schillings Flucht gleich nach dessen
54 BV an Hermann Wlach am 27. Dezember 1911, H.I.N. 227986, Sammlung BV, HS, WBR.
55 BV an Hermann Wlach am 22. Jänner 1912, H.I.N. 227988, Sammlung BV, HS, WBR.
56 Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, 1988, 782.
57 Großmann, Ich war begeistert, 1931, 181–183 ; Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, 1988, 782.
58 Ibid.
59 Korrespondenz BV mit Anton Wildgans und Albert Ehrenstein, K31 und K33, A : Viertel, DLA
und Korrespondenz BV mit Hermann Essig, A : Essig, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359