Page - 314 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
Image of the Page - 314 -
Text of the Page - 314 -
 
314  | Erinnerungsorte 
der 
Wiener 
Moderne
den« und meinte : »Alle sind in ähnlicher Stimmung.«20 Auch Berthold Vier-
tel ? – »Ich bin glänzend aufgelegt, aber die Karte ist zu klein«, berichtete er
Anfang Oktober.21
Möglicherweise erfassten Offiziersgeist und Gemeinschaftsgefühl Berthold
Viertel doch tiefer als er es zeigen wollte. Auch hinter den »tabula rasa«-Gedan-
ken der »kritischen-modernen Söhne« standen nicht zuletzt Gewaltphantasien,
die den Krieg auf ihre Art zur heroischen Legende machten : Vielleicht konnte
die Zerstörung der Strukturen durch den Krieg in einem »Befreiungsschlag«
den Widerspruch um Modernität endlich auflösen ?22
Die Sehnsucht nach einer Tabula rasa war weit verbreitet und groĂź. Fast den ganzen
Krieg, trotz aller Euphorien, die von den deutschen Siegen verursacht wurden, beglei-
tete das Gefühl des letzten Aktes einer welthistorischen Tragödie, die mehr Furcht
und Ungeduld als Furcht und Mitleid erregte, und von deren schwarzen Ausgang man
eine Katharsis erhoffte.23
Auch in seinen damals entstandenen Gedichten sah Viertel den Krieg vor allem
als Neubeginn : »Wir fangen hier noch einmal an« lautet die erste Zeile des
Gedichts Plänkler. Zudem habe er einen »Speicher Wut« in sich, wie er die
»russische Kanaille« wissen ließ : »Mein Bajonett schreibt rote Schrift / In ihre
schwarzen Seelen.«24 In Kote 708 wiederum ging es um soldatische »Kamerad-
schaft« :
Soldaten ! Österreicher ! Kroaten und Madjaren ! / […] Ich sage euch die Situation ! //
Vor euch der wilde Serbe, eingegraben in Beton, / Die Drina hinter euch, Hochwas-
serfluten, / Vergurgelnd in ein Grab die Feigen und die Hochgemuten, / […] / Ihr
Leute, Kameraden, das ist die Situation ! // Und sie bekreuzen sich und sprechen mit
geradem Ton : / ›Vorwärts ! Napred ! Elöre !‹25
Außergewöhnlich war Viertels martialische Dichtung damals nicht : Nach einer
Schätzung des Literaturkritikers Julius Bab gingen im deutschsprachigen Raum
rund 50.000 Kriegsgedichte täglich in den Redaktionen der Zeitschriften ein.26
20 Egon Erwin Kisch, Schreib das auf, Kisch !, Leipzig 1951, 92.
21 BV an Hermann Wlach, 7. Oktober 1914, H.I.N. 228000, Sammlung BV, HS, WBR.
22 Rathkolb, »Das Befreiende der mutigen Tat«, in : Grundlagenpapier, 2014, 14–15 ; Leidinger/Moritz,
Der Erste Weltkrieg, 2011, 23–24.
23 BV, Hitler und Österreich, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwindung, 1989, 134–137, 132.
24 BV, Plänkler, in : Kaiser/Roessler/Bolbecher (Hg.), Viertel, Graues Tuch, 1994, 52.
25 BV, Kote 708, in : Kaiser/Roessler/Bolbecher (Hg.), Viertel, Graues Tuch, 1994, 54.
26 Atze, Marcel, Dichten, in : Atze, Marcel und Waldner, Kyra (Hg.), »Es ist Frühling und ich lebe
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359