Page - 315 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Grundsätzlich war die literarische Abteilung des Kriegsarchivs für diese Texts-
orte eigens zuständigÂ
– dort waren Viertels Freunde und Kollegen Alfred Polgar,
Stefan Zweig und viele andere als kriegsdienstleistende Dichter tätig und wur-
den deswegen von Karl Kraus vehement kritisiert.27 Wie aber war solche Propa-
ganda mit zunehmend schrecklicheren Erfahrungen an der Front vereinbar ?
Offenbar veränderte erst die dritte serbische Offensive Viertels Einstellung
zum Krieg und seinen Habitus des patriotischen Offiziers : Sie endete im Okto-
ber mit dem Schock der totalen Niederlage am Balkan, nachdem ein »toller
Vormarsch« zu einem »noch tolleren Rückzug« geführt hatte.28 Der Oberbe-
fehlshaber der Balkanstreitkräfte Oskar Potiorek hatte die 5. und 6. Armee an-
getrieben zum 66. Jahrestag der Thronbesteigung Kaiser Franz Josefs am 2. De-
zember 1914 Belgrad einzunehmen. Das gelang auch, blieb aber ein sehr
kurzfristiger »Erfolg«. Nur einen Tag später vertrieb die serbische Armee die
angeschlagene k.u.k. Armee wieder aus der Hauptstadt und schlieĂźlich aus dem
Land. Schon während des österreichisch-ungarischen Angriffs hatte es Prob-
leme mit dem Nachschub, widrige Wetterbedingungen und schlimme Verluste
gegeben.29 Als die Front zusammenbrach, beschrieb Berthold Viertel den RĂĽck-
zug als erschöpfenden Nachtmarsch (1915) einer »Horde vor Schmutz und Mü-
digkeit fast sinnloser, vor innerer Leere trunkener Tiere und Menschen« und als
ein Davonrennen, dessen »tapsende Planlosigkeit« keineswegs heroisch war.30
Auch die 1915 veröffentlichten Notizen aus dem Kriege, die Viertel im westser-
bischen Gebirgskurort Banja KoviljaÄŤa verorten, nahmen den Krieg bereits an-
ders in den Blick :
Vor Wochen saßen W. [möglicherweise Rudolf Wels] und ich im verwüsteten Ge-
birgskurort des Feindes. Die Schwefelquelle flieĂźt wie je, um sie herum wird sich
später einmal das Bad regenerieren. Die Rohre der Badeanlage sind zertrümmert, die
Maschinen furchtbar geschädigt, die Villen, die Bogenlampen – alles hat für Komitat-
schitücke [serbische Freischärler-Milizen] büßen müssen. Aus den Kabinen schauen
Pferdeköpfe, ein Mädchenzimmer […] mit Himmelbett stellt sich als, sagen wir, La-
trine dar. Merkwürdig : die Treibhäuser und die Blumenbeete sind fast unversehrt
noch«. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs in Infinitiven. Von Aufzeichnen bis Zensieren, St.
Pölten 2014, 118–147.
27 Konrad, Helmut, Ăśber die Kriegsschuld ; Marderthaner, Wolfgang, Der Krieg und die Medien, in :
Grundlagenpapier, 2014, 9–10/18–19.
28 BV, Heimkehr (4. Dezember 1948), in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 184.
29 Rauchensteiner, Erster Weltkrieg, 2013, 279–287 ; Münkler, Der große Krieg, 2013, 184–185 ; Wag-
ner, Der Erste Weltkrieg, 1981, 72–79 ; Schnanes, Serbien, 201, 160–166.
30 BV, Nachtmarsch, in : Kaiser/Roessler/Bolbecher (Hg.), Viertel, Graues Tuch, 1994, 55 ; BV, Und im
Kriege bzw. Auf der Flucht, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 167–170.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359