Page - 326 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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In Opposition ging Viertel auch, wenn es um Gewalt gegen die Zivilbevölke-
rung und Massenhinrichtungen ging, die für ihn nun – anders als in Serbien –
zu einem wichtigen Thema wurden :77
Manchmal rückt die Stabskompagnie aus und schlängelt sich mit Landsturmstramm-
heit […] dem Rathaus zu. Dort werden dann Russophile gehängt. H.[eindl ?] war
unlängst dabei ! An dem Tag, als der Auditor [juristischer Beirat der Militärbefehls-
haber], blaĂź vor Ăśbelkeit, in die Wohnung stĂĽrzte zu uns, mit Schnaps gelabt werden
musste und einen kleinen Weinkrampf erlitt : Es hatte ihn angegriffen, daĂź die Frau
und die 6 Kinder den einen Delinquenten absolut nicht hatten loslassen wollen. Wäh-
rend nun der H. von dem Augenblick phantasierte, da der andere Delinquent plötz-
lich den Galgen vor sich sah und stockte in seinem stumpfen, angstdurchhöhlten
Daraufhinschreiten. Als er die Schlinge umkriegen sollte, begann er auch richtig zu
weinen und zu betteln, nur half ihm das nichts.78
Die Spionagehysterie, die Berthold Viertel schon in Serbien erlebt hatte, griff in
den Monaten nach der RĂĽckeroberung Galiziens wieder vehement um sich. Am
stärksten unter Verdacht standen UkrainerInnen, damals RuthentInnen, und es
genügten die fadenscheinigsten Gründe, um sie hinzurichten : »Es ist bitter ! Die
Ruthenen sind so diskreditiert, daß stramme Österreicher […] sie am liebsten
alle aufknüpfen möchten.«79 Ähnlich wie Karl Kraus erfasste Viertel die Men-
talität der »strammen Österreicher« oder »heiteren Militärrichter«, die »nach
Noten hängen […] ohne den Schimmer eines Beweises gegen die Verbrecher,
die nach dem Sittengesetz der Menschheit überhaupt keine waren«80. Ein ge-
wisser Hauptmann B. verkörperte im Kriegstagebuch diese Verbindung von
»Lebenslust, Sinn fĂĽr Dekoration in jeder Hinsicht« und BrutalitätÂ
– er »möchte
alle Ruthenen henken und jedesmal zuschauen dabei«. Viertel meinte, man
empörte Viertel, dass der Offiziersdiener eines »Kameraden«, der analphabetische Scherenschleifer
und sechsköpfige Familienvater Joseph, nach dreitägiger Krankheit alleingelassen an der Cholera
verstarb. Seinen eigenen Offiziersdiener, den Tschechen Kostecka, hätte er nicht derart »im Stiche«
gelassen, erklärte er bestimmt.
77 Holzer, Das Lächeln der Henker, 2014, 45–65 ; Leidinger, Hannes, »Der Einzug des Galgens und
des Mordes«. Die parlamentarischen Stellungnahmen polnischer und ruthenischer Reichtagsabge-
ordneter zu den Massenhinrichtungen in Galizien, in : Zeitgschichte, September/Oktober 2006, 33.
Jg, H. 5, 235–260.
78 BV, Kriegstagebuch (Manuskript, Heft ohne Umschlag), o.D., o.S. [Juli bis September 1915], K18,
DLA.
79 Ibid.
80 BV, Heimkehr nach Europa, geschrieben um den 9. November 1932, 296, K19, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359