Page - 329 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Viertels Hoffnung : »Keinen Winter mehr !«, die er so verstand »daß ich das
nächste Mal in Wien oder Berlin frieren werde«95, erfüllte sich nicht, doch
Herbst und Winter 1916 brachten Veränderungen : Die österreichische Reichs-
hälfte der Habsburgermonarchie hatte schwere Versorgungsprobleme und seit
Mai gab es in Wien Hungerkrawalle. Der Unmut ĂĽber den Kriegszustand wuchs
und am 21. Oktober 1916 erschoss Friedrich Adler den Ministerpräsidenten
Graf StĂĽrgkh. Eine Reaktion Viertels auf dieses Ereignis ist nicht ĂĽberliefert,
doch es muss ihn allein aufgrund seiner guten Bekanntschaft mit der Familie
Adler bewegt haben. Exakt einen Monat später starb Kaiser Franz Joseph nach
68-jähriger Regierungszeit und ein Ende begann sich abzuzeichnen.
Berthold Viertel hatte im Dezember 1916 nochmals Urlaub. Er war in Wien
und er lernte seine spätere Frau Salka Steuermann kennen. Es sind kaum Briefe
Viertels aus dem Jahr 1917 erhalten, in dem er offenbar vorwiegend an Salka
Steuermann schrieb : »Von einem kleinen Ort namens Kolendziany kamen jeden
Tag lange, wundervolle Briefe. Er schrieb ĂĽber die Ukraine und ihre Menschen
und ĂĽber den Krieg, am meisten aber ĂĽber uns. Auch ich schrieb ihm täglich.«96Â
–
Diese für das Paar sehr wertvollen Briefe gingen später verloren.
Der Winter 1916/17 wurde der schlimmste Hungerwinter des 20. Jahrhun-
derts. An der Ostfront gab es zwischen Jänner und März nur örtliche Stellungs-
kämpfe, doch am 12.Â
März veränderte der Ausbruch der Revolution in Russland
die Lage. Ende April erhielt Berthold Viertel ein Verdienstkreuz fĂĽr vorzĂĽgliche
Dienste und er besuchte im Juli erstmals die Familie seiner zukĂĽnftigen Frau bei
Sambor.97 Nachdem im Sommer die letzte russische Offensive gescheitert war,
kam es im Dezember zu Waffenstillstandsverhandlungen der Mittelmächte mit
Russland in Brest-Litovsk. Am 18. Dezember 1917 endete der Krieg an der
Ostfront, fast zeitgleich mit dem Kriegseintritt der USA – die angetreten waren,
um »die Demokratie in Europa zu retten«. Das bedeutet eine enorme Kräftever-
schiebung zugunsten der Entente.98
Berthold Viertel wurde seines Militärdienstes »auf unbestimmte Zeit entho-
ben« und stand im Dezember 1917 kurz vor der Abreise nach Prag, »wo ich also
95 BV an Albert Ehrenstein, 6. Juni 1916, 69.2042/5, K31, A : Viertel, DLA.
96 Viertel, Das unbelehrbare Herz, 1970, 134–138. Berthold Viertel erklärte später : »Der beste
Mensch meines ganzen Lebens war ich ohne Zweifel in Kolendziany und auf der Wychylowka
[dem Haus der Steuermanns nahe Sambor].« (BV, Tagebuch 1930, 10. Mai 1930, o.S., K22, A :
Viertel, DLA).
97 Makularpare Berthold Viertel, KA, ÖStA ; Viertel, Das unbelehrbare Herz, 1970, 140–141 ; Leidin-
ger/Moritz, Der Erste Weltkrieg, 2011, 47–67.
98 Pelinka, Anton, Demokratie, Krieg, Frieden. Anmerkungen zu den Rahmenbedingungen des Ers-
ten Weltkriegs, in : Grundlagenpapier, 2014, 11–13 ; Leidinger/Moritz, Der Erste Weltkrieg, 2011,
47–67.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359