Page - 117 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Rio de Janeiro
Vor fast vierhundert Jahren, 1552, schreibt Tomé de Sousa, da er in Rio
landet: Tudo é graça que dela se pode dizer. Man kann es eigentlich nicht
besser ausdrücken als dieser rauhe Kriegsmann. Die Schönheit dieser Stadt,
dieser Landschaft läßt sich wirklich kaum wiedergeben. Sie versagt sich dem
Wort, sie versagt sich der Fotografie, weil sie zu vielfältig, zu unübersichtlich,
zu unerschöpflich ist; selbst ein Maler, der Rio in seiner Gänze darstellen
wollte mit all seinen tausend Farben und Szenen, käme in einem einzigen
Leben nicht zu Ende. Denn hier hat die Natur in einer einmaligen Laune von
Verschwendung von den Elementen der landschaftlichen Schönheit alles in
einen engen Raum zusammengerückt, was sie sonst sparsam auf ganze
Länder verteilt und vereinzelt. Hier ist das Meer, aber Meer in allen seinen
Formen und Farben, grün anschäumend am Strand von Copacabana von der
unendlichen Ferne des Atlantischen Ozeans, bei Gávea wieder grimmig
aufspringend an einzelnen Felsen und dann wieder in Niterói glatt und blau an
den flachen Sandstrand sich schmiegend oder die Inseln zärtlich
umschließend. Da sind Gebirge, aber jeder Gipfel und Hang anders geformt,
schroff, grau und felsig der eine, umgrünt und weich der andere, spitz gestellt
der Pão de Açúcar und wie von einem gigantischen Hammer flach geschlagen
die Höhe von Gávea, hier zerrissen und zerzackt die Bergkette des Dedo de
Deus, des Fingers Gottes. Jeder seine eigene Form eigenwillig bewahrend und
doch alle in brüderlichem Kreise sich verbindend. Da sind Seen wie die
Lagoa Rodrigo de Freitas und der von Tijuca, die die Berge, die Landschaft
und gleichzeitig die elektrischen Linien der Stadt spiegeln, da sind
Wasserfälle, kühl und schäumend aus den Felsen fallend, da sind Bäche und
Flüsse, Wasser in allen seinen unfaßbaren Formen. Da ist Grün in allen
Farben, Urwald bis knapp heran an die Stadt mit wuchernden Lianen und
undurchdringlichem Dickicht, da sind Parks und gepflegte Gärten, die jeden
Baum, jede Frucht, jeden Strauch der Tropen in scheinbarem Durcheinander
und doch weiser Ordnung vereinen. Überall ist die Natur eine
überschwengliche und doch harmonische, und inmitten der Natur die Stadt
selbst, ein steinerner Wald, mit ihren Wolkenkratzern und kleinen Palästen,
mit ihren Avenuen und Plätzen und farbig orientalischen Gäßchen, mit ihren
Negerhütten und gigantischen Ministerien, mit ihren Badestränden und
Kasinos – ein Alles-Zugleich, eine Luxusstadt, eine Hafenstadt, eine
Geschäftsstadt, eine Fremdenstadt, eine Industriestadt, eine Beamtenstadt.
Und über dem allen ein seliger Himmel, tiefblau des Tags wie ein riesiges
Zelt und nachts besät mit südlichen Sternen; wo immer der Blick in Rio
hinwandert, ist er von neuem beglückt.
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197