Page - 124 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Das alte Rio
Um eine Stadt, um ein Kunstwerk, um einen Menschen wirklich zu verstehen,
muß man ihre Vergangenheit, ihre Lebensgeschichte, ihre Entwicklung
kennen. So geht mein erster Weg in jeder neuen Stadt zunächst zu den
Fundamenten, auf denen sie sich erbaut hat, um ihr Heute aus dem Gestern zu
begreifen. Nichts natürlicher, als daß ich in Rio zunächst den Morro do
Castelo, den historischen Hügel suchte, wo sich vor vierhundert Jahren die
Franzosen verschanzt hatten, und auf dem die siegreich stürmenden
Portugiesen dann den eigentlichen Grundstein ihrer Stadt gelegt. Aber
vergebens die Suche. Der historische Hügel ist abgeräumt. Kein Stein, keine
Scholle Erde ist mehr davon zu finden. Das Terrain ist längst nivelliert, und
breite Straßen erheben sich auf dem abgeflachten Boden. Merkwürdiges
Phänomen. Das alte Rio ist verschwunden und das neue steht auf einem völlig
anderen Grund als die Stadt des sechzehnten und des siebzehnten
Jahrhunderts. Wo heute die asphaltierten Straßen laufen, war ursprünglich nur
Sumpf gewesen, von kleinen Flußläufen durchzogen, ungesund und
unbewohnbar, und die ersten Ansiedler hatten sich auf die Hügel
hinaufgerettet. Erst allmählich konnte Terrain dem Sumpf und dem Meer
abgewonnen werden, indem man das Land zwischen den Hügeln
austrocknete, die Flußläufe zuschüttete oder kanalisierte und gleichzeitig
durch Aufschüttung die Ufer immer weiter in die Bucht hineinschob. Dann
wiederum fielen die Hügel, die den Verkehr hemmten. So hat sich in
dreihundert Jahren die Stadt eigentlich völlig umgestülpt, und alles oder fast
alles Historische ist dieser ungeduldigen Verwandlung zum Opfer gefallen.
Es ist kein großer Verlust, denn im sechzehnten, im siebzehnten und weit
bis ins achtzehnte Jahrhundert war Bahia die Hauptstadt Brasiliens und Rio zu
arm, zu gering für Kunstbauten und prunkvolle Paläste. Selbst als zu Anfang
des neunzehnten Jahrhunderts der portugiesische Hof hier seine Residenz
aufschlug, fanden die unfreiwilligen Gäste keine würdige Unterkunft. So
reicht alles Historische bestenfalls in die Kolonialzeit zurück, und ein Haus
von hundertfünfzig Jahren genießt hier schon im Gegensatz zu Bahia die
Reverenz der Ehrwürdigkeit. Von dieser kolonialen Zeit, ihrem Stil und ihren
Lebensformen bekommt man am besten ein Bild in den wenigen in ihrer
Echtheit noch unveränderten Gassen um die Alfândega in Rio. Sie sind noch
typisch portugiesisch und wirken angenehm in ihrer anspruchslosen
Bescheidenheit. Einstöckig und zweistöckig, einstmals wohl bunt getüncht,
haben sie keine andere Zier als das schön gehämmerte eiserne Spitzenwerk
der Balkone; zurückgesunken nach einstiger Vornehmheit dienen sie
ausschließlich mehr den kleinen Geschäften. Zu ebener Erde stehen die
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197