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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
krise, die sich mit der einsetzenden Transformation noch weiter verschärfte, war
die Bundesrepublik als Kreditgeber von ungeheurer Bedeutung.171 Jedoch schien
auch in Bonn – wie in so vielen anderen westlichen Kapitalen – der Ausgang der
ungarischen Entwicklung noch unsicher. Auch in der Flüchtlingsfrage war die
längste Zeit ungewiss, ob eine Regelung im Sinne der Bundesrepublik möglich
sein würde.
Einen ersten handfesten Beleg dafür lieferte Budapest, wo die grundsätzliche
Entscheidung bereits gefallen war, die Ausreise der DDR-Bürger zu ermöglichen,
sollten die beiden deutschen Staaten zu keiner Lösung gelangen, als in der Nacht
vom 23. auf 24. August die Budapester Botschaftsflüchtlinge nach Wien aus-
geflogen werden konnten. Tags darauf trafen Außenminister Horn und Minis-
terpräsident Németh am 25. August unter strengster Geheimhaltung auf Schloß
Gymnich bei Bonn mit Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher zusam-
men und unterrichteten die Bundesrepublik über die ungarische Entscheidung.
Zum Leidwesen der ungarischen Politiker gelang es nicht, die Annahme eines
Zusammenhangs zwischen der humanitären Entscheidung und der Hoffnung auf
weitere bundesdeutschen Kredite, die bald darauf vergeben wurden, zu vermei-
den. Nach dem Treffen begannen jedenfalls umgehend die Vorbereitungen auf den
terminlich noch nicht festgelegten
– denn noch immer hätte Ungarn eine Lösung
im Einvernehmen mit der DDR bevorzugt – Tag X der Grenzöffnung. In diese
musste natürlich auch das Transitland Österreich sofort eingebunden werden.172
Österreich sagte in Absprache mit der Bundesrepublik und Ungarn seine
volle Unterstützung bei der Ausreise der DDR-Bürger zu. Der bundesdeutsche
Botschafter Dietrich Graf von Brühl vermerkte zur Haltung Österreichs in der
Flüchtlingsfrage: „Diese Zustimmung Österreichs wurde sofort erteilt.“173 Um
die – trotz allem – guten Beziehungen zur noch gänzlich unreformierten DDR
nicht zu gefährden und die bilateralen Verträge einzuhalten, fand man eine „sehr
österreichische“ Lösung. In jeden Ausweis eines Flüchtlings wurde von den Grenz-
beamten ein loses Blatt mit Visumsstempel eingelegt und der Name des Flücht-
171 Den umfassendsten deutschsprachigen Überblick zu den ungarisch-westdeutschen Bezie-
hungen bietet die der Memoirenliteratur zuzurechnende Publikation des ehemaligen unga-
rischen Botschafters in der Bundesrepublik István Horváth, Die Sonne ging in Ungarn auf.
Erinnerungen an eine besondere Freundschaft, München 2000; siehe weiters mit Überblick-
charakter Haus der Geschichte Baden-Württemberg / Kulturinstitut der Republik Ungarn
(Hg.) Ungarn und Deutschland – eine besondere Beziehung, Tübingen 2002. Zusammen-
fassend aus der zeitgenössischen Perspektive vor 1989 siehe Gyula Józsa, Die Bundesrepublik
Deutschland und Ungarn – Traditionell gute Beziehungen über Systemgrenzen hinweg, in:
Othmar Nikola Haberl / Hans Hecker (Hg.), Unfertige Nachbarschaften. Die Staaten Ost-
europas und die Bundesrepublik Deutschland, Essen 1989. Quellengestützt wird die Thema-
tik von Andreas Schmidt-Schweizer bearbeitet. Ein erster Überblick liegt nun in Form einer
monografischen Einleitung vor. Schmidt-Schweizer, Die politisch-diplomatischen Beziehun-
gen in der Wendezeit, S. 11–213.
172 Gehler, Bonn – Budapest – Wien, S. 145–148.
173 Dietrich Graf Brühl, Flucht in die Freiheit, in: Manfried Rauchensteiner (Hg.), Aufbruch in
eine neue Zeit. 1989 im Rückblick, Wien 2000, S. 9–34, hier S. 22 und 30–34.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99