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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
„Das Image Österreichs in der Bundesrepublik hat sich signifikant verschlechtert. Um
diese Feststellung wird man, spricht man mit der Bevölkerung, Entscheidungsträgern
und Medienvertretern, nicht herumkommen. Wenn auch noch große Sympathien und
Wertschätzung für unser Land bestehen, so haben doch Glykol, ein ‚Krank- (bzw. Tod)
beten‘ [sic!] unserer Wirtschaft, die Ereignisse um den Herrn Bundespräsidenten sowie
neuerdings die Berichte über Antisemitismus unseren Ruf beeinträchtigt.“204
204 Zu den einzelnen Punkten führte Bauer im Detail aus: „Die ‚Glykolaffäre‘ hat gegenüber
dem Vorjahr dabei an Bedeutung verloren. Man lacht heute mehr darüber, als daß man sich
noch ärgert. Allerdings ist auch Lächerlichkeit, besonders aber die oft damit verbundenen
Charakteristiken ‚Unverläßlichkeit‘ und ‚mangelnde Seriosität‘, schädlich. Wenn auch der
Einfluß des Glykols auf das bundesdeutsche Bild von Österreich abgenommen hat, so ist es
keineswegs vergessen und mag sich im Zusammenhang mit einer anderen, im Endeffekt viel
bedeutsameren Entwicklung auswirken: Seit mehreren Monaten zeichnen seriöse deutsche
Printmedien wie Handelsblatt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung ein
sehr negatives Bild der österreichischen Wirtschaft. Es findet dabei weder eine Polemik noch
gar eine Verfälschung von Fakten statt, sondern es werden, in fast allen Fällen unter Zitie-
rung österreichischer Quellen, negative Ereignisse und Meldungen besonders unterstrichen.
Insgesamt entsteht dadurch der Eindruck, daß Österreich knapp vor einer größeren wirt-
schaftlichen Krise steht. Kontakte der Botschaft mit wichtigen Vertretern der Wirtschaft und
der politischen Szene zeigen, daß man zwar die Wirtschaftssituation in Österreich nicht so
düster einschätzt wie dargestellt, die negativen Berichte aber deutliche Spuren hinterlassen
haben. Die besondere Gefahr liegt aber nach ha. Ansicht darin, daß die genannten deutschen
Medien von maßgeblichen internationalen Wirtschaftskreisen aufmerksam gelesen werden.
Auswirkungen, z. B. auf die Bankrate für österreichischerseits aufgenommene Kredite, wären
daher nicht überraschend. Die Berichterstattung über die Ereignisse um den Herrn Bundes-
präsidenten hat die Bundesrepublik weniger berührt als viele andere westliche Länder. Aller-
dings ist das in der Regel geäußerte Unverständnis für die Kampagne und insbesondere für
die US-Maßnahmen meist gepaart mit einer negativen Beurteilung des Verhaltens des Herrn
Bundespräsidenten gegenüber den erhobenen Vorwürfen. Wesentlich beunruhigender ist
jedoch die nunmehr auftretende Tendenz, Österreich als antisemitisches Land abzustempeln,
das nicht bereit ist, (gemeinsame) geschichtliche Verantwortung zu tragen. […] Die beson-
deren Voraussetzungen der Bundesrepublik führen auch zu einer besonderen Einschätzung
der Entwicklung. Einerseits wird nicht ungern gesehen, daß nun auch Österreich auf einem
Gebiet zur Verantwortung herangezogen wird, wo die Bundesrepublik bisher allein gestan-
den ist: Es bereitet sicherlich vielen Schadenfreude, zu beobachten, daß das aus hiesiger Sicht
österreichische ‚Hinausschleichen‘ aus der Geschichte des 2. Weltkrieges ein Ende gefunden
hat. Ausserdem erhofft man sich mancherorts, daß dadurch von eigenen rechtsradikalen Ent-
wicklungen, der Historikerdiskussion, Bitburg usw. abgelenkt wird. Andererseits befürchtet
man ein ‚Überschwappen‘ der Kampagne auf die Bundesrepublik. Viele der heutigen poli-
tischen Entscheidungsträger haben eine ähnliche Vergangenheit wie der Herr Bundesprä-
sident. Antisemitische Strömungen sind hier keineswegs ausgerottet und können jederzeit –
auch im Zusammenhang mit dem zwar derzeit nicht aktuellen, aber latent immer noch
vorhandenen Fremdenhaß – ausbrechen.“ Bauer hielt es daher für „dringend erforderlich“
dem gegenwärtigen Bild der österreichischen Wirtschaft und dem „Antisemitismusimage“
entgegenzuwirken sowie das Gedenken an den 50. Jahrestag des „Anschlusses“ von 1938 im
Folgejahr sorgfältig vorzubereiten. Siehe Botschafter Bauer an BMAA, Bonn, 22. Juli 1987,
Zl. 314-Res/87, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1987, Res-Berichte Bonn (Hervorhebungen im
Original). Siehe dazu auch: Katrin Hammerstein, Gemeinsame Vergangenheit – getrennte
Erinnerung? Der Nationalsozialismus in Gedächtnisdiskursen und Identitätskonstruktionen
von Bundesrepublik Deutschland, DDR und Österreich, Göttingen 2017.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99