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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
können.337 Gleichzeitig war man in Wien über die mannigfaltigen Sorgen und
Nöte Gorbatschows gut unterrichtet. Ende April hatte man aus „dritter Hand […]
über persönliche Einschätzungen“ des KPdSU-Generalsekretärs erfahren. Aus
seiner Sicht waren die Hauptprobleme: 1) die „katastrophale Wirtschaftssitua-
tion“, 2) die „Nationalitätenfrage, insbesondere Litauen“, 3) die „Deutsche Frage“
und 4) die „Vorbereitung des kommenden Parteitags“. Jedes einzelne dieser Pro-
bleme erschien zwar verkraftbar, aber das „Zusammenfallen aller vier“ bereitete
ihm beachtliche Schwierigkeiten. Während die Wirtschaft schlichtweg nicht über
Nacht zu sanieren war und die Frage Litauen noch lösbar schien, machte ihm
der deutsche Einigungsprozess und dessen unklarer Ablauf offenbar zu schaffen:
„Hier ginge es um die Gefahr, dass eine Lösung der Deutschen Frage, wie im-
mer sie letztlich aussehe, sichtbar ohne entsprechende Mitwirkung der Sowjet-
union zustandekomme; dies könne von seinen Gegnern als Beweis für den durch
seine Politik des neuen Denkens ausgelösten ‚Ausverkauf‘ der Sowjetunion ins
Treffen geführt werden.“ In dieser Hinsicht blickte Gorbatschow angesichts seiner
sich formierenden internen Gegner in der KPdSU sorgenvoll auf den Parteitag
im Juli.338
Neben der Haltung der Sowjetunion zur deutschen Einheit und zu der NATO-
Mitgliedschaft Deutschlands stellte auch die Frage der polnischen Westgrenze
einen weiteren international vielbeachteten Gegenstand dar, dem sich auch Öster-
reich nicht gänzlich entziehen konnte. Polen anerkannte trotz allem gesamt-
gesellschaftlichen historisch verständlichen „Unbehagen“ angesichts der sich an-
bahnenden deutschen Einheit das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen und
hatte auch gegen eine NATO-Mitgliedschaft eines geeinten Deutschlands nichts
einzuwenden, jedoch wollte die politische Führung in Warschau zuerst die be-
stehende deutsch-polnische Grenze garantiert wissen. Öffentliche Erklärungen
Kohls und Genschers, die trotz des weiterbestehenden Vorbehalts, dass nur ein ge-
eintes Deutschland über seine Grenzen befinden könne, betonten, dass Deutsch-
land die Grenze nicht in Frage stellen würde, reichten für Warschau nicht aus.
Daher forderte Polen die Teilnahme an den „Zwei-Plus-Vier“-Gesprächen. Das
von der polnischen Regierung bevorzugte Szenario wäre die Aushandlung eines
Grenzvertrages und dessen Paraphierung durch beide deutschen Staaten, gefolgt
von der Ratifizierung durch das geeinte Deutschland, gewesen.339
337 Siehe Dok. 139.
338 Aktenvermerk. Sowjetunion; interne Situation, persönliche Einschätzung Michael [sic!] Gor-
batschows, Gesandter Ernst Sucharipa, Wien, 27. April 1990, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1990,
GZ. 225.03.00/26-II.3/90.
339 Siehe Dok. 127. Zur Haltung Polens siehe u. a. Klaus Ziemer, Zwischen Misstrauen und Hoff-
nung: Polen und die deutsche Vereinigung, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Revolution und
Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München
2009, S. 509–524; Mieczysław Tomala, Polen und die deutsche Wiedervereinigung, Warschau
2004; Dominik Pick, Deutsch-polnische Beziehungen und die deutsche Einheit, in: Michael
Gehler / Maximilian Graf (Hg.), Europa und die deutsche Einheit. Beobachtungen, Entschei-
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99