Page - 167 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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23.10.1987: Bericht Botschafter Bauer Dok. 13
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Pershing IA)4 als der Politiker mit dem grösseren politischen Gespür
– seine Geg-
ner würden von Opportunismus sprechen. Denn offensichtlich ist die Friedens-
und Entspannungssehnsucht auch in der BRD-Bevölkerung tiefer verwurzelt,
und es ist daher publikumswirksamer und politisch klüger, auf einer von aussen
nicht beeinflussbaren Welle (wie der „Perestrojka“) zu reiten als sich ihr entge-
genzustellen; die weitere Entwicklung wird ohnedies zeigen, inwieweit sich Gor-
batschow durchsetzen kann, und der Aussenpolitiker Genscher sieht die Gefahr
einer leichtfertigen Entspannungseuphorie (die dem Westen, der sich die Schuld
daran allerdings selbst zuzuschreiben hat, in den 70er Jahren nicht genützt hat)
mit anderen Augen als die Verteidigungspolitiker. Kommt Gorbatschow durch,
so hat Genscher es im Interesse der deutsch-sowjetischen Beziehungen als Erster
gesagt; anderenfalls hat sich bedauerlicherweise seine Stimme der Vernunft eben
nicht durchgesetzt.
Dennoch scheint sich der Aussenminister mit dieser einseitigen Betonung
nicht mehr ganz wohl zu fühlen (Spötter behaupten, seine Aktien stünden in
Washington nicht sehr hoch, weshalb er sich mit solcher Begeisterung auf die
deutsch-französische Freundschaft werfe), oder aber er meint, im Westen be-
reits eine hinreichend positive Haltung gegenüber Gorbatschow bewirkt zu ha-
ben. Denn seit dem geglückten Honecker-Besuch5 sind wieder verstärkt im letz-
ten Jahr zu kurz gekommene Akzente zu hören, die sich auf die Notwendigkeit
einer Pflege des transatlantischen Verhältnisses und der EG-Beziehungen kon-
zentrieren. Symptomatisch dafür ist Genschers Beitrag für die „Nordsee-Zeitung“
(Beilage)6 und verschiedene darauffolgende Interviews; daneben tritt der Aussen-
minister freilich weiterhin für eine aktive Ostpolitik auf Grundlage einer gemein-
samen westlichen Strategie (vergleiche dazu die beiliegende ausführliche Rede in
Minnesota)7 ein.
Obwohl das Auswärtige Amt mit Interpretationen eher zugeknöpft ist, lässt
sich doch aus diesen öffentlichen Erklärungen wie aus der ständigen Informie-
rung aller westlichen Besuche über den Honecker-Besuch (über den sie durch
ihre Botschaften ohnedies Bescheid wissen) das geflissentliche Bemühen ablesen,
4 Siehe Dok. 8, Anm. 5
5 Erich Honecker besuchte von 7. bis 11. September die Bundesrepublik. Zum Besuch siehe
Dok. 9 und 10.
6 „Wir sind verankert in der Gemeinschaft der europäischen Demokratien der EG und im west-
lichen Bündnis. Wir haben für die Entwicklung unserer Beziehungen zu unseren östlichen
Nachbarn mit unserer Vertragspolitik stabile und dynamische Grundlagen geschaffen. Als
Unterzeichner der Schlussakte von Helsinki bemühen wir uns um die Entwicklung einer Frie-
densordnung für Europa.“ Zudem erteilte er in diesem Artikel jedwedem „Neutralismus“ und
Alleingängen im Ost-West-Verhältnis eine Absage. Siehe: Hans-Dietrich Genscher, Europa
zukunftsfähig machen, in: Nordsee Zeitung, 19. September 1987.
7 Genscher hielt seine Rede am 9. Oktober 1987 im Rahmen der vom 9. bis 11. Oktober 1987
stattfindenden Tagung des Institute for East-West-Security-Studies in St. Paul, Minnesota /
USA. Hans-Dietrich Genscher, Strategie für den Fortschritt der Menschheit, in: Bulletin des
Presse- und Informationsamts der Bundesregierung vom 14. Oktober 1987, S. 893–898.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99