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28.1.1988: Länderberichte Gesandter Sucharipa
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Dok. 16
von Bundeskanzler Kohl als großer Erfolg bezeichneten Reisebewegungen in die
BRD haben den Druck der Reise- und Ausreisewilligen nicht vermindert.7
Die schon lange bestehenden Kontakte der SED-Parteiführung mit der poli-
tischen Opposition in Bonn gipfelten in der Unterzeichnung eines Grundsatz-
papieres zwischen SED und SPD.8 Der Inhalt des Papieres hat der Führung in der
Folge jedoch einige offenbar für sie überraschende Schwierigkeiten bereitet, da
sich die Parteibasis durch den eher plötzlich verordneten friedlichen Wettstreit
der beiden Gesellschaftssysteme verunsichert fühlte. Zahlreiche Anfragen und
Diskussionen veranlaßten Kurt Hager, Sekretär des Zentralkomitees für Kultur,
Wissenschaft und Ideologie, in einer eher scharfen Stellungnahme das alte Feind-
bild wieder „zurechtzurücken“.9
7 Die SED-Führung sah sich seit Anfang der 1980er-Jahre in Folge des KSZE-Nachfolgeprozes-
ses zunehmend unter Druck gesetzt, um zum ersten Mal eine förmliche Regelung zu veröffent-
lichen, die ein Antragsrecht auf Ausreise enthielt. Es handelt sich um die „Verordnung zur Re-
gelung von Fragen der Familienzusammenführung und der Eheschließung zwischen Bürgern
der DDR und Ausländern“ vom 15. September 1983. Sie gab Ausreisewilligen erstmals die
Möglichkeit, sich auf eine Norm zu beziehen. Antragsteller konnten den Arbeitsplatz verlieren
und die Kinder von höheren Bildungseinrichtungen ausgeschlossen werden. Wer dem Antrag
öffentliche Wirksamkeit verlieh oder um westliche Unterstützung bat, konnte strafrechtlich
belangt werden. Zwischen 1976 und 1988 wurden etwa 20.000 Ermittlungsverfahren gegen
Antragsteller geführt, die zumeist mit Gefängnisstrafen zwischen einem und zwei Jahren
endeten. Von Mitte der 1970er-Jahre bis Oktober 1989 stellten dennoch circa 250.000 Men-
schen einen Ausreiseantrag. Ende 1988 hatten in der DDR rund 110.000 Menschen Ausreise-
anträge gestellt. Siehe generell Hans-Joachim Veen (Hrsg.), Lexikon. Opposition und Wider-
stand in der SED-Diktatur, Berlin / München 2000.
8 Seit 1984 trafen sich Vertreter der SPD-Grundwertekommission und der Akademie für Gesell-
schaftswissenschaften beim ZK der SED zu Gesprächen. Das Ergebnis war ein am 27. August
1987 sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik publiziertes Dialogpapier mit dem
Titel „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“. Siehe Gesandter Lorenz Graf
an BMAA, Berlin (Ost), 3. September 1987, Zl. 160-RES/87, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1987,
GZ. 22.17.01/2-II.1/87. Hier fasste Gesandter Graf folgendes zusammen: „Die Zukunft wird
erst zeigen, ob die Bemerkung von Prof. Reißig, daß dem Papier historische Bedeutung zu-
komme, zu hoch gegriffen war. Die Tatsache des Zustandekommens dieses Papieres ist jedoch
zweifellos bemerkenswert. Nach fast siebzigjähriger Trennung von Sozialdemokraten und
Kommunisten ist dies das erste derartige Papier. Im Alltag der Menschen wird zu beobachten
sein, was von den Formulierungen der jeweiligen Ideologen in die praktische Politik einge-
flossen ist. Wenn sich beide Seiten Reformfähigkeit zusprechen und damit eine Flexibilität
des jeweiligen Systems voraussetzen, so bleibt abzuwarten, ob Eppler mit seiner Hoffnung
auf einen „systemöffnenden Dialog“ recht behalten wird. Mit dem Zustandekommen dieses
Papiers vor dem Besuch Erich Honeckers in Bonn konnte die SED öffentlichkeitswirksam
ihre immer betonte Bereitschaft zum politischen Dialog unterstreichen und zweifellos einen
atmosphärischen Beitrag zur deutsch-deutschen Diskussion leisten. Darüber hinaus hat die
SED mit deutlicher Blickrichtung auf Moskau unterstrichen, daß man auch in der DDR zu
einem neuen Denken bereit sei. Vertreter der SPD müßten sich jedoch im klaren sein, daß die
angekündigte Diskussion nichts Grundsätzliches berühren wird und nur dort punktuell zum
Tragen kommen wird, wo es dem Regime um kontrollierte Bewegung geht.“
9 Siehe Botschafter Franz Wunderbaldinger an BMAA, Wien, 17. November 1987, Zl. 224-
Res/87, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol, GZ. 43.03.00/5-II.3/87. Hier wurde folgendes festgehalten:
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99