Page - 220 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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15.9.1988: Bericht Botschafter Wunderbaldinger
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Dok. 26
gemeinschaft. Eine günstige Voraussetzung dafür sei, dass die Beziehungen zwi-
schen dem COMECON und der EG mit der Unterzeichnung der gemeinsamen
Erklärung auf ein neues offizielles Niveau gehoben worden seien.
Bei Darstellung der innenpolitischen Situation Ungarns kam Grósz auch auf
die Lage der ungarischen Minderheit in Rumänien zu sprechen. Er informierte
seine Gastgeber über sein Treffen mit Nicolae Ceauşescu in Arad. Erich Honecker
erklärte hiezu lediglich, dass dies ein Problem der beiden betroffenen sozialisti-
schen Staaten sei und von ihnen gelöst werden müsse. In seiner Tischrede verwies
Károly Grósz auch auf die „in Ungarn lebende deutsche Nationalität“. Es sei hu-
manistische Pflicht, im Geiste der Prinzipien der Leninschen Nationalitätenpoli-
tik die Bewahrung ihres nationalen Antlitzes und die Entwicklung ihrer Kultur
zu fördern. Er dankte der DDR für ihre internationalistische Haltung und Hilfe
(jährlich kommen etwa 200 bis 300 ungarische Deutschlehrer für ein Semester zu
Germanistikstudien in die DDR).
Zum ersten Mal hat Honecker quasi offiziell bestätigt, dass der XII. Parteitag
bereits im Jahre 1990 stattfinden wird. Gerüchte über ein Vorziehen des nächsten
Parteitages zirkulierten in Berlin schon seit einiger Zeit. Als Grund gab Honecker
die erwünschte Synchronisation zwischen 5-Jahres-Plan und Parteitag an.
Als Programmwunsch brachte die ungarische Seite während der Vorbereitun-
gen des Besuches die Abhaltung einer gemeinsamen Pressekonferenz von Erich
Honecker und Károly Grósz vor. Dieses Ansinnen hat die DDR glattweg abgelehnt.
Der sozialistische Freundschaftsbesuch des dynamischen Károly Grósz in der
DDR brachte für hiesige Beobachter
– und nicht nur für solche aus dem Westen
–
deutlich zum Vorschein, welch tiefgreifende Unterschiede bereits zwischen ein-
zelnen sozialistischen Bruderstaaten bestehen. Die fast schon lakonisch anmu-
tende Beschwichtigung von seiten der DDR, dass natürlich bei der Gestaltung der
entwickelten sozialistischen Gesellschaft auch unterschiedliche Wege beschrit-
ten werden, überzeugt den Beobachter nicht mehr so ganz. Ja man stellt sich die
Frage, ob die jeweiligen national verschiedenen Wege nicht allmählich auch zu
einem anderen Ziel führen könnten. Ein unterschiedlicher Grad der Entwicklung
der sozialistischen Gesellschaften wird ja wohl zum Teil auch schon von diesen
Gesellschaften selbst festgestellt. Jedoch nicht nur der Grad der Entwicklung ist
unterschiedlich: allmählich könnten die einzelnen Gesellschaften in den Bruder-
staaten auch verschieden sozialistisch sein.
Der Botschafter:
Wunderbaldinger
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99