Page - 266 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
Image of the Page - 266 -
Text of the Page - 266 -
26.6.1989: Bericht Botschafter Wunderbaldinger
266
Dok. 44
BRD totschweigt. Schon zwei Tage darauf meint die „Süddeutsche Zeitung“,3 dass
keine Bedenken gegen den Besuch Gorbatschows in Bonn bestehen und dass die
DDR-Medien sachgerecht berichten.
Selbstverständlich ist ein Besuch eines sowjetischen Staats- und Parteichefs in
Bonn allemal gut für das Auftreten gewisser Ängste in der DDR-Führung. Der
wirtschaftlich doch um so viel potentere andere deutsche Staat kann allemal die
Brücke über die DDR nach Moskau schlagen. Um einiges mehr Aufregung hat
der Besuch Gorbatschows im Vorfeld verursacht, da der wirtschaftliche Entwick-
lungswunsch und -bedarf Moskaus hoch wie nie zuvor sich darstellt und in der
Person von Gorbatschow außerdem ein politisch flexibler Mann gesehen wird,
der auch in der Lage ist, die Beziehungen zu dieser europäischen Wirtschafts-
macht nutzbringend für die UdSSR auszugestalten. Leichte Verärgerung hat auch
die Form und das Datum des Besuches des sowjetischen Außenministers prak-
tisch am letzten Tag vor dem Beginn des Besuches Gorbatschows in Bonn aus-
gelöst (Zl. 133-RES/89 vom 14. Juni 1989).4
Die Veröffentlichung der (west)deutsch-sowjetischen Gemeinsamen Erklärung
im „Neuen Deutschland“5 und in anderen Tageszeitungen der DDR hat offen-
sichtlich so manchen Medienbeobachter in der BRD überrascht. Fraglich ist tat-
sächlich, ob umgekehrt eine solche Erklärung im Wortlaut in den westlichen Me-
dien veröffentlicht worden wäre. Die DDR ging sogar noch einen Schritt weiter,
indem der offizielle Sprecher des Außenministeriums der DDR, Botschafter Wolf-
gang Meyer, den Besuch Gorbatschows in der BRD als einen bedeutenden Beitrag
für die Wahrung und Stabilisierung des Friedens in Europa wertete.6
Genugtuung hat die DDR empfunden über das Bekenntnis zur Achtung der
territorialen Integrität, Souveränität und Sicherheit eines jeden Staates. Keine
Mühe hatte die DDR ebenfalls mit der Selbstbestimmung der Völker, da die Bür-
ger der DDR ihre „freie Wahl“ des Gesellschaftssystems ja bekanntlich schon
getroffen haben. Beruhigung konnte man auch feststellen über die Worte Gor-
batschows zu der Berliner Mauer. Leicht nuanciert verwendete er hier die Worte
von Staatsratsvorsitzenden Honecker, wonach die Mauer ebenso lange bestehen
bliebe, als die Voraussetzungen hiefür bestehen. Der Besuch Gorbatschows und
die Erklärung in Bonn haben somit Ängste in der DDR sogar zerstreut, und die
3 In der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 16./17./18. Juni 1989 konnte keine
entsprechende Aussage gefunden werden, wohl aber der Hinweis auf Ausführungen Gorba-
tschows während der Pressekonferenz: „Offenbar eingedenk mißtrauischer Pressekommen-
tare in anderen westlichen Ländern und auch angesichts der Zurückhaltung in der DDR be-
tonte Gorbatschow, daß die Vereinbarungen mit der Bundesregierung ‚niemanden bedrohen
und niemandem schaden‘.“ Siehe „Vereinbarungen mit Bonn bedrohen niemanden“, in: Süd-
deutsche Zeitung, S. 1.
4 Siehe Dok. 40.
5 Siehe Dok. 41, Anm. 3. Für den Abdruck im SED-Zentralorgan siehe: Neues Deutschland,
14. Juni 1989, S. 2.
6 Diese Passage wurde in der Abteilung II.3 am Seitenrand handschriftlich markiert.
back to the
book Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99