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20.9.1990: Abschlussbericht Botschafter Bauer Dok. 173
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bis zur Untertunnelung der Alpen
– in der Öffentlichkeit die Situation wieder be-
ruhigt und keine Ressentiments zurück bleiben. Die BRD nimmt ihre wirtschaft-
lichen Interessen beinhart wahr. Die Härte der Auseinandersetzungen nimmt vor
bayerischen Landtagswahlen oder österreichischen Wahlgängen zu und schwillt
dann rasch wieder ab.
Das vereinte Deutschland wird um die Jahrtausendwende zur ersten europä-
ischen Wirtschaftsmacht, die ihre wirtschaftlichen Interessen ebenso hartnäckig
verfolgen wird wie bisher – wenn nicht sogar stärker. In der EG wird fast nichts
ohne Deutschland, aber nichts gegen Deutschland gehen. Wie wirtschaftliche in
politische Macht umgesetzt wird, darüber steht noch die Beurteilung aus.
Bis dahin ist es aber noch ein langer Weg. Nicht nur die ehemalige DDR ist zu
sanieren. Auch die früheren kommunistischen Staaten werden von Deutschland
mitzualimentieren sein. Der Umfang all dieser Leistungen, dazu noch die Hilfe-
stellung an die Sowjetunion als Preis der deutschen Einheit, ist ziffernmäßig nicht
annähernd abschätzbar. Es wird sich aber um gewaltige Summen handeln.
Zwangsläufig wird sich die deutsche Finanzpolitik an Keynes5 orientieren
müssen: hohe Kreditaufnahmen bei immer wieder aufkommenden inflationären
Tendenzen. Selbst Steuererhöhungen, insbesonders Verbrauchersteuern, werden
daran nichts ändern. Alle Staaten in und um die EG werden zwangsläufig mitma-
chen müssen; insbesondere Österreich, das ohnehin über den Hartwährungsver-
band6 an die Deutsche Mark angebunden ist.
Es ist sogar möglich, dass der deutsche Motor den Europäern einen Konjunk-
turweg weist, der sich erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg von der dahinsie-
chenden Wirtschaftsentwicklung der USA abhebt, ohne gänzlich entkoppelt zu
werden. Euro-Dollars und anderes Floating Capital werden vor allem über deut-
sche Banken den Weg in das ertragreiche Europa finden. Über die politischen Fol-
gen dieser möglichen Entwicklung darf heute schon nachgedacht werden.
Österreich wird sämtliche ökonomischen Chancen und Risiken dieser Ent-
wicklung mitzutragen haben. Persönlich sehe ich mehr Vor- als Nachteile.
Nach der Jahrtausendwende wird Deutschland reicher, wirtschaftlich mächti-
ger, selbstbewusster und mancher Deutsche arroganter dastehen.
Fazit: Jetzt sollten wir alles daran setzen, sobald als möglich als gleichberech-
tigtes Mitglied in die EG einzuziehen. Im Windschatten der schwierigen und kost-
spieligen deutschen Einigung und des Zusammenwachsens Europas unter deut-
scher finanzieller Federführung sollten wir es in den Gremien der EG so rasch als
möglich erlernen, wie sich ein europäischer Kleinstaat gegenüber europäischen
Großen mit wechselnden Mehrheiten behaupten kann. Unser Durchhaltevermö-
5 Auf John Maynard Keynes geht ein Ansatz in der Volkswirtschaftslehre zurück (der so ge-
nannte Keynesianismus) welcher eine interventionistische, auf die Sicherung von Vollbeschäf-
tigung ausgerichtete Wirtschaftspolitik empfiehlt. In Krisenzeiten ist der Staat dazu angehal-
ten, die fehlende private Nachfrage auszugleichen und durch Investitionen die Wirtschaft zu
beleben.
6 Siehe dazu bereits Dok. 153, Anm. 27.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99