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28.9.1990: Bericht Botschafter Binder Dok. 174
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allen Gesellschaftsschichten festzustellen, vor allem deshalb, da ein guter Teil der
Bevölkerung einfach nicht weiß wie es weitergeht.
Schließlich funktionieren die alten Strukturen nicht mehr und die neuen noch
nicht. Die alten Probleme sind noch nicht vollständig überwunden, dafür sieht
man sich neuen Problemen, die man bisher kaum kannte, gegenüber: Arbeits-
losigkeit, Kriminalität, Streiks, Demonstrationen, ja sogar Straßenkrawalle (in-
szeniert von Links- und Rechtsradikalen), bis hin zum Chaos im Straßenverkehr.
Während das Unbehagen des kleinen Mannes von den oben dargelegten Un-
sicherheiten des täglichen Lebens herrührt, sehen sich weite Kreise der bisherigen
DDR-Intelligenz durch die historische Entwicklung der Fundamente ihres Ge-
dankengebäudes beraubt. Bezeichnend erscheint in diesem Zusammenhang ein
Gespräch, das ein Botschaftsvertreter kürzlich mit dem bekannten Schriftsteller
Stefan Hermlin führte. Dieser erwähnte, daß sich eine Reihe von Intellektuellen
sogar mit dem Gedanken des Auswanderns tragen. Auf die Frage wohin, antwor-
tete er: „Vielleicht nach Österreich.“
Ein ähnlich düsteres Stimmungsbild wie bei Schriftstellern und Künstlern ist
aus naheliegenden Gründen bei dem Heer der hiesigen Beamten festzustellen.
Nur wenige von ihnen werden die Möglichkeit haben, ihren Beruf im gesamt-
deutschen Staat auszuüben. Andererseits besteht in vielen Betrieben und Einrich-
tungen die Situation, daß so mancher Nutznießer des alten Systems noch immer
an den Schalthebeln sitzt, was wiederum zu Frustration bei jenen führt, die vom
alten System benachteiligt waren und von den neuen Verhältnissen noch nicht
profitieren konnten.
Auch die Sorge, daß in einem mächtigen, vereinten Deutschland das „häßliche
Gesicht“ der Deutschen wieder zum Vorschein kommen könnte, vernimmt man
verschiedentlich. (Zu Fragen der Vergangenheitsbewältigung siehe auch Ber.
Zl. 275-RES/90 vom 06.09.1990)3 Der erwähnte Stefan Hermlin, bei dem es auf-
3 Dort stand u. a. zu lesen: „[…] Zu bewältigen wird sowohl die jüngste Vergangenheit von
vier Jahrzehnten SED-Herrschaft sein als auch die Vergangenheit der Nazi-Herrschaft. Das
SED-Regime hatte ja bekanntlich jede Mitverantwortung der DDR für die Verbrechen Nazi-
Deutschlands abgelehnt und jede offene Diskussion, die über die offizielle Sprachregelung
hinausging, unterbunden. Ein erstes Aufweichen jener starren Position, die ernsthafte Bei-
träge zur Vergangenheitsbewältigung unmöglich machte, zeigte sich bereits zu Ende der Ära
Honecker, als dieser den Präsidenten des jüdischen Weltkongresses, Bronfman, in Berlin traf.
Der erste konkrete Schritt wurde jedoch erst im April d. J. von der Volkskammer mit der An-
erkennung der Mitverantwortung gesetzt. […] In der hiesigen Gesellschaft hat man jedoch
zum Teil diese Schritte noch nicht mitvollzogen. Über 50 Jahre Diktatur werfen lange Schat-
ten. Sorge bereitet vor allem das Unwesen von Neonazi-Gruppen. […] Die mit dieser Situation
verbundenen Probleme (Konkurrenz um rare Arbeitsplätze, Schwarzhandel, Kriminalität)
schüren die Ausländerfeindlichkeit, die in der gegebenen sozialen Unsicherheit und den wirt-
schaftlichen Problemen einen fruchtbaren Nährboden finden. […] Der 3. Oktober verspricht
zwar ein Jubelfest zu werden. Das Fest könnte allerdings insbesondere von den Problemen
der Bewältigung der SED- und Stasi-Herrschaft überschattet werden. Dabei geht es um einige
äußerst sensible Fragenkomplexe:
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99