Page - 22 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Heimkehrer Schmeling wird in Ein Boxer im Adlon im Berliner Luxushotel als
Deutschlands Retter gefeiert, von ironischer Distanz nahezu unbelastet, abge-
sehen vielleicht von dem Hinweis auf die Kunst des Nasenbeinzerschmetterns.
Man staunt: Erich Mühsam als nationalistischer Gelegenheitslyriker, der den
deutschen Boxheroen schlechthin preist? Boxen dient auch hier, wie so oft, als
Illustrationsmaterial des Eindeutigen; der Sport erscheint in einen spezifischen
Schematismus gepresst und soll – besetzt mit Körperfetischismus, Nationalis-
mus und Triumphgeschrei – eine eindeutige Teleologie vorspiegeln. Dass Boxen
erweiterte Fragehorizonte eröffnen kann, zeigt jedoch ein zweiter Blick auf das
Gedicht, das in der Originalversion den Titel Ruhm trägt und sechs Strophen
aus je sechs Verszeilen im Kreuzreim umfasst. In dieser Fassung bezieht der po-
litische Autor Mühsam gesellschaftsrelevante Fragen mit ein, die den Boxsport
als ein Trägermedium kritischer literarischer Rede erscheinen lassen. So hebt
das Gedicht an:
Als der König aus dem Morgenlande,
Amanullah von Afghanistan,
mit uns knüpfte heiße Freundschaftsbande,
ach, wie jauchzten wir denselben an!
Wonnig blitzten damals auf dem Lehrter
Bahnhof Freudentränen, Orden, Schwerter.
Leider war von jenem man in Kabul
weniger entzückt als in Berlin,
und mit Flugzeug, Weib und Ehrensabul
mußte er bald nach außerhalb verziehn. –
Doch am Lehrter Bahnhof mit Gepränge
gelten andern jetzt die Festempfänge.2
Mühsam spielt in Ruhm auf Amanullah Khan an, der sich als Monarch im po-
litisch rückständigen Afghanistan um soziale Reformen bemüht und im Januar
1929 von den feudalistischen Machthabern zur Emigration gezwungen wird;
am Lehrter Stadtbahnhof empfing der deutsche Reichspräsident Paul von Hin-
denburg den Machthaber im Jahr zuvor. Erst der Bildbereich „Festempfänge“
am Ende des zweiten Verses öffnet in abruptem Szenenwechsel jenen zweiten
Handlungsstrang in Ruhm, den das Berlin-Lesebuch unter dem Titel Ein Boxer
im Adlon verfälschend und verknappt zitiert. Schmelings Sieg erscheint in Ruhm
weitaus weniger glorios: ein Resultat körper-intensivierter Arbeit; Ein Boxer
2 Mühsam 1982, S. 145 (Hervorh. im Orig.)
22 | Teil
I.
Zeitzeichen
Boxen
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440