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und im Querschnitt mit „seelischer Diarrhöe“93 in Verbindung gebracht; man
gibt sich gemäß dem boxerischen „Ideal des Stoischen und der Contenance“94:
betont kühl, höflich, sportlich, nüchtern, unbeteiligt seiner Mitwelt gegenüber,
und man kleidet sich sportlich95. Man trägt dem Wink Georg Simmels gemäß
Blasiertheit96 vor sich her und gibt sich der „Selbstvergessenheit“97 hin.
2.
Nebenbühnen:
Tempo
plus
Masse
gleich
Sportfanatismus
Im Geschwindigkeitsrausch. Hast der Zeit
Im neusachlichen Jahrzehnt kommt „alles auf Zeit- und Kraftgewinn“98 an. Die
exzessiv angewandte Formel urbanen Daseins ließe sich so darstellen: Tempo
plus Zuschauermassen gleich Sportfanatismus. Die Kreisbewegungen der Uhr-
zeiger korrespondieren mit dem Lebensgefühl der durch Tempo- und Taktdik-
tat99 manipulierten Metropolenbewohner, für die es „überlebensnotwendig“100
scheint, „präzise Terminabsprachen zu treffen und […] mit kleinen Zeiteinhei-
ten“101 zu rechnen. Die urbane Hetzjagd rückt in die Nähe dämonischen Ge-
schehens: „Weltstadtverkehr, diese wilde, kaum zu bändigende Bestie“, schreibt
Ernst Klein in Kämpfer, „getrieben von der geheimnisvollen, unergründlichen
Hast unserer Zeit.“102 Heinrich Mann mischt die Gier nach Zeitpräzision
mit den Bedrohungs- und Angstgefühlen des Alltags: „Jede Minute kann die
große Katastrophe eintreten.“103 Auch Thomas Manns Rede zur Eröffnung der
„Münchner Gesellschaft 1926“ haftet unüberhörbar Hautgout an: „Wir leben in
einer Zeit, deren verächtliche Fidelität uns zuweilen ein bißchen auf die Nerven
93 Zit. n. Becker 1993, S. 96
94 Luckas 2002, S. 288
95 Vgl. Witt 1996, S. 207f.
96 Vgl. Simmel 2006, S. 22f; Lethen 1995, S. 402; Jaspers 1998, S. 42ff
97 Faktor 1994, S. 228.
98 Lethen 1995, S. 400; in den Wochenschauen werden Boxerfilme schneller abgespielt, um das Ge-
schehen auf der Leinwand zu dynamisieren, vgl. Eisenberg 1993, S. 139; May 2004, S. 56; Hol-
temayer 2005, S. 47
99 Vgl. Alfred Polgars Überlegungen zum zeitgenössischen Tanz (Polgar 2004c, S. 248); zu wei-
teren Epochensignaturen vgl. Becker 1993, S. 121 (Dynamik); Wendler 1974, S. 186 (Chance);
Witt 1996, S. 193 u. 207f (Technikfortschritt); Görtz 1996, S. 342f (Mode); Lubich 1997, S. 257
(Musik); Lethen 2000, S. 36ff; Lubich 1997, S. 251 (Mann-Frau-Beziehung)
100 Bienert 1992, S. 72
101 Ebd.
102 Klein 1927, S. 114
103 Mann 1932, S. 332
62 | Teil
I.
Zeitzeichen
Boxen
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440