Page - 76 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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.Taten
sprechen
lassen:
Zentralsignatur
Kämpfen
Boxer, ahnt Karl Jaspers in seiner Schrift Die geistige Situation der Zeit, schlü-
gen „ihr Leben in die Schanze“244, indem sie zur Anschauung brächten, was
der Masse versagt bliebe; begeistert, aber auch „erschreckt und befriedigt“245, so
reagiere das Publikum, mit „Kampflust“246 und „Heroismus“247 konfrontiert, auf
den im Ring dargebotenen „Anblick exzentrischer Möglichkeiten“248. Die er-
zählende Literatur wird, wie später noch genauer zu erörtern sein wird, mit der
Signatur des Kämpfens einen zentralen diskursiven Knotenpunkt ausmachen,
der sich im Speziellen verzweigt und entfaltet – hinein ins Körperökonomische
und -technische, das wiederum neue Konzeptionen der Beziehungen zwischen
Macht, Körper und Individuum radikal ineinander verschränkt und hervorruft:
Besonders in der Trivialliteratur präsentiert sich der Boxer, wie zu Beginn des
folgenden Hauptabschnitts gezeigt werden wird, als ein maschinengleicher, wil-
lenloser Golem, der von einem ebenso ökonomisierten wie funktionalisierten
Körper gesteuert und nahezu ausschließlich auf Effizienz und Mechanisierung
ausgerichtet scheint. Während die Autoren der elaborierten Literatur sowohl die
Grenzen der mikro- als auch der makrokörperkulturellen Ebene – der einzelne
Boxer scheitert bereits im Training, die Körpersemantiken werden einer gene-
rellen Kritik unterzogen – verschieben, zeigt Robert Musil dem Zusammen-
spiel von Körper, Individualität und Wissen neue Weg auf. Im Sportverständnis
der Weimarer Republik, das ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von
bewaffnetem Duellfanatismus249 und ab 1918 von den Folgen der Material-
schlachten des Ersten Weltkriegs mitgeprägt wird250, amalgiert der Signalreiz
Sport, der „immerwährende Wettbewerb der Kräfte“251, mit dem Phänomen des
Kämpfens zu einer Grundstimmung, welche die Zeitgenossen zugleich „enthu-
manisiert, gestählt und zerrüttet“252, aber auch „athletisch und verzweifelt“253
zurücklässt, wie Thomas Mann in Meine Zeit bemerkt. Die sportiven Leitbilder
des Kämpfens, Wetteiferns, Muskelmessens und Siegens werden in dem „Jahr-
244 Jaspers 1998, S. 61
245 Ebd.
246 Ebd. (Hervorh. im Orig.)
247 Ebd.
248 Ebd.
249 Vgl. Blom 2009, S. 189ff
250 Vgl. Kaes 1983, S. XIX
251 Fischer 1982, S. 37
252 Mann 1960a, S. 314
253 Ebd.
76 | Teil
I.
Zeitzeichen
Boxen
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440