Page - 86 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Da kam das rohe Stück an das Band und rückte vor von Mensch zu Mensch, von
Handgriff zu Handgriff, jeder ausprobiert, die Eignung physikalisch und physio-
logisch festgestellt die kürzeste Zeit für eine und immer dieselbe Handbewegung,
denselben Muskeldruck, die immer gleiche Gedankenform! Von dem höchstbe-
zahlten Maschinenteil Mensch wurde genaueste und rascheste Arbeit verlangt.
Das Stück rückte vor, wer nicht in Sekundenpräzision zugriff, für den war es ver-
loren – und damit seine Stellung – sein Leben! […] Das laufende Band, unent-
rinnbar! Die um die Seele gewundene Kette von Folge zu Folge! Die nüchternes
Grauen gewordene Weltherrscherin Technik und Logik! […] Denn alle waren
Werkzeug am laufenden Band, an der unendlichen Kette! – […] Wer hatte noch
Zeit? – Wer war noch Lump, Stromer, göttlicher Faulheit voll, – Poet? Wer schuf
noch, statt zu arbeiten? Hatten sie nicht alle schon Maschinenherzen, waren von
Tempo berauschte Spindelgehirne ohne Faden darauf – Leerläufer?352
Mit deutlich sichtbaren Körperattributen versehen, wird auch die Figur des Bo-
xers zu einem amerikanisierten Musterbild der Moderne verklärt. Querschnitt-Re-
dakteur Hermann von Wedderkop, der ab 1924 auch Herausgeber des Magazins
ist, beschreibt das Auftreten des Boxers Hans Breitensträter: „Blond, blau, Gold
an Zähnen, eine verhauene, im Wirbel herumgedrehte Nase, frisch, riskieren wir
kurz ,jünglingsstark‘, gebräunt durch Schläge, Training. Zum Bewundern sachlich
hingestellt.“353 In pathetischer Tonlage wird hier ein Boxer glorifiziert, dessen
Statur zu einem „Symbol eines […] amerikanischen Körpers“354 erhoben wird. Bo-
xer streben auch die „Taylorisierung ihres Tuns“355 an: Die Figur des Boxers wird
zu einem Inbild des körperlichen Höchstleistungsakteurs und -ingenieurs, der
sich für den Erfolg aus freien Stücken diszipliniert.356 Boxen bietet den Rationa-
lisierungs- und Normierungstendenzen eine ideale Plattform – auch wenn, wie in
dem zuvor angeführten Querschnitt-Text, einem nahezu idealtypischen Bild des
Boxers mit derangiertem Antlitz gehuldigt wird: Die statuarische Schönheit des
Boxers, in vielen zeitgenössischen Romanen beschworen, wird häufig durch einen
Makel entstellt. Kants Formel in der Kritik der Urteilskraft von der Schönheit
als Zweckmäßigkeit ohne Zweck scheint fürs Boxen weit besser geeignet als die
schwärmerische Feststellung des offenbaren Schönheitsmangels. Gewissermaßen
streben Boxer daneben die Mechanisierung des Lebensglücks an: Durch Boxen,
352 Gurk 1980, S. 96ff (Hervorh. im. Orig.)
353 Wedderkop 1921, S. 137f
354 Rase 2003, S. 119 (Hervorh. im Orig.)
355 Becker 1991, S. 217; vgl. Kohr, Krauß 2000, S. 66: „In der Arbeitersportbewegung wurde diese
Entwicklung als ‚Sporttaylorismus‘ bekämpft.“
356 Vgl. Fleig 2008, S. 52
86 | Teil
I.
Zeitzeichen
Boxen
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440