Page - 87 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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so die dem Common Sense entsprechende Vorstellung, ließe sich das Lebens-
glück optimal und, dies vor allem, berechenbar meistern – eben durch Training,
Drill und Ringmarter. Boxen wird zu einer existenziellen Metapher: Wer stre-
bend sich bemüht, so der bis heute inhaltsleere wie auf bloßen Wunschvorstel-
lungen gründende Gedanke, dem ist die Machbarkeit des Glücks garantiert. Die
Sterne hängen im Boxring mitunter allzu tief. Körperdurcharbeitung ist gleich
Glücksökonomisierung: Die Zeitgenossen des frühen 20. Jahrhunderts gehen
dieser einfachen Box-Gleichung massenhaft auf den Leim – konfrontiert mit den
hochgradig austrainierten Kämpfern im Ring, im gleißenden Licht der Arena-
scheinwerfer, die sich, aller Widerstände zum Trotz, buchstäblich nach oben
durchschlagen. Das Quantum an Unberechenbarkeit – die Möglichkeiten des so-
zialen und sportlichen Abstiegs, die im Boxen stets präsent sind – verbuchen die
Zeitgenossen generös als ein freies Kräftespiel dieses Sports. Brecht, wie stets mit
Lust an der Desillusionierung, wird das zu einiger Ideologiekritik gereichen. Der
Reporter des Berliner Lokal-Anzeiger berichtet 1927 unter der Überschrift In der
Muskel-Schule / Ein Kapitel vom Training ruhelos aus der Berliner Sport palast-
Sportschule vom Training der Profiboxer und der Amateure:
Man wird schon schlanker, wenn man nur zusieht. […] Training, heißa, da pocht das
Boxerherz, das ist Training, und wir andern, wir stehen da und halten vor abgrund-
tiefem Erstaunen die Münder auf. Einer steht vor dem Spiegel und bekämpft sein
grimmiges Ebenbild, daß die Lappen fliegen. – Und dort – leise, leise – der Trainer
gibt seinem Mann ein paar Verhaltungsmaßregeln. […] Da sitzen sie nun, arme Ga-
leerensklaven ihres Embonpoints, auf den Ruderbänken und zerrudern die zu viel
gegessenen Koteletts. Da wälzen sie sich auf der Matte, von wegen ein paar zu viel ge-
nossener Weißwürste. Da tanzen sie Springseil, weil sie zuviel Bockbier getrunken ha-
ben. Da hauen sie den Punchingball, als wenn das arme Luderchen etwas dafür kann.
[…] Es lebe das Training! Zehn Gramm Fett sind wieder weniger in der Welt.357
Mit Hilfe eines asketischen Trainingsrigorismus und komplexer Trainingsprak-
tiken wird versucht, den Herausforderungen im Ring – und jenen des Lebens
– zu begegnen. Training wird zu einem Synonym für die Möglichkeit stilisiert,
dem „Strudel des modernen Daseins“358 zu entkommen; durch Übung und
Schliff sollen sich Fehler ausgleichen lassen, Erziehung wird mit strategischer
Schulung gleichgesetzt.359 Boxen verheißt eine neue „Stilistik der Existenz“360,
357 Zit. n. Arenhövel 1990, S. 98f
358 Jaspers 1998, S. 30
359 Vgl. Risse 1979, S. 28f
360 Foucault 1989a, S. 97 87
Haupt-
und
Nebenschauplätze:
Epochensymptom
|
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440